Höhenangst
weiß es nicht.«
»Dann drang er in mich ein. Sie können sich nicht vorstellen, wie stark er ist. Er schien es zu genießen, mir dabei weh zu tun. Ich lag bloß da, ohne mich zu rühren, und wartete, daß es endlich vorbei sein würde. Als er fertig war, küßte er mich wieder, als wäre das alles mit meinem Einverständnis geschehen. Ich bekam kein Wort heraus, fühlte mich wie gelähmt. Er brachte mir mein Kleid und meinen Slip. Ich weinte, aber er sah mich bloß an, als fände er das irgendwie interessant. Dann sagte er:
›Es ist doch nur Sex‹ oder etwas in der Art. Dann drehte er sich einfach um und ging. Ich zog mich an und lief zurück ins Haus. Ich sah Josie mit ihrem Blonden in einer Ecke stehen. Sie zwinkerte mir zu. Er tanzte mit einem anderen Mädchen und blickte nicht einmal auf.«
Mittlerweile wirkte Michelle wieder völlig ruhig, fast unbeteiligt. Sie hatte die Geschichte schon zu oft erzählt.
Ich fragte sie in sachlichem Ton, wann sie zur Polizei gegangen sei. Sie antwortete, daß sie damit eine Woche gewartet habe.
»Warum so lange?«
»Mich plagten Schuldgefühle. Immerhin war ich betrunken gewesen und hatte ihn angemacht. Ich hatte meinen Freund hintergangen.«
»Was hat Sie dazu bewogen, dann doch noch zur Polizei zu gehen?«
»Mein Freund bekam Wind von der Sache. Wir hatten einen schrecklichen Streit, und er machte Schluß. Ich war völlig verwirrt. In diesem Zustand bin ich zur Polizei gegangen.«
Plötzlich wandte sie den Kopf. Sie stand auf und verließ den Raum. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein paarmal tief Luft zu holen. Als sie zurückkam, hatte sie das Baby auf dem Arm. Sie setzte sich wieder und bettete den Kopf des Kleinen in ihre Armbeuge. Ab und zu schob sie ihm ihren kleinen Finger in den Mund, und er nuckelte hingebungsvoll daran.
»Bei der Polizei waren sie sehr verständnisvoll. Ich hatte immer noch ein paar blaue Flecken. Außerdem hatte er …
er war ziemlich brutal gewesen, und ich konnte den Bericht meines Arztes vorweisen. Aber die Verhandlung war schrecklich.«
»Was ist passiert?«
»Als ich aussagte, wurde mir klar, daß in Wirklichkeit ich vor Gericht stand, nicht er. Der Anwalt fragte mich über meine Vergangenheit aus, meine sexuelle Vergangenheit. Er wollte wissen, mit wie vielen Männern ich schon geschlafen hätte. Dann forderte er mich auf zu schildern, was auf der Party passiert war. Er ließ mich erzählen, wie ich mit meinem Freund gestritten hatte, welches Kleid ich trug, wieviel ich getrunken hatte. Daß ich ihn zuerst geküßt, daß ich ihn angemacht hatte. Er –
Adam – saß einfach nur da und blickte ernst und traurig drein. Der Richter brach die Verhandlung ab. Ich bin vor Scham fast gestorben – plötzlich kam mir alles so schmutzig vor. Mein ganzes Leben. Ich habe nie jemanden so sehr gehaßt wie ihn.« Sie schwieg.
»Glauben Sie mir?«
»Sie waren sehr ehrlich«, antwortete ich. Aber sie wollte mehr von mir hören. Ihr Gesicht wirkte mädchenhaft, und sie starrte mich flehend an. Sie tat mir so leid, und ich selbst tat mir auch leid. Sie nahm ihren kleinen Sohn und preßte ihr Gesicht gegen die weichen Falten seines Halses.
Ich stand auf. »Und Sie waren sehr tapfer«, fügte ich mit gepreßter Stimme hinzu.
»Werden Sie in der Sache irgend etwas unternehmen?«
»Die rechtliche Lage ist problematisch.« Ich wollte keine Hoffnungen in ihr wecken. Das war wirklich das letzte, was ich wollte.
»Ja«, sagte sie in fatalistischem Ton. Sie schien mit unserem Gespräch sowieso keine großen Erwartungen verbunden zu haben. »Was hätten Sie getan, Sylvie?
Sagen Sie es mir.«
Ich zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. Es war, als würde ich durch das falsche Ende eines Teleskops blicken.
Erst jetzt wurde mir so richtig bewußt, daß ich einen doppelten Verrat beging. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte«, antwortete ich. Dann fiel mir plötzlich etwas ein.
»Kommen Sie hin und wieder nach London?« Sie runzelte irritiert die Stirn.
»Wieso?« fragte sie. »Was sollte ich dort?«
Ich hatte das Gefühl, daß sie die Wahrheit sagte.
Außerdem hatten wir schon länger keine Anrufe oder Nachrichten mehr erhalten.
Das Baby begann zu schreien, und sie hob es hoch, so daß sein Kopf unter ihrem Kinn ruhte. Die Arme gegen sie gestemmt, hing der Kleine an ihrer Brust wie ein Miniaturkletterer an einer Felswand. Ich lächelte sie an.
»Er ist ein hinreißender kleiner Junge«, sagte ich. »Den haben Sie wirklich gut hingekriegt.«
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