Höhlenangst
Kletterkiste im Gästezimmer Seil und Steigklemmen und wollte die Treppe wieder hinunterschleichen. Aber da war Papa auf einmal in der Küche gewesen und hätte ihn gesehen. Eine Weile hatte Gerrit auf der Treppe gewartet, dann hatte er alles wieder in die Kiste zurückgelegt. Als Papa mal kurz wohin musste, war es ihm wenigstens gelungen, die Höhlen rettung in Göppingen anzurufen – ein eigenes Handy hat te der Junge offenbar noch nicht –, deren Nummer er auswendig kannte. Als die Göppinger fragten, wer er sei, hatte er aufgelegt.
»Du hast sehr klug gehandelt, Gerrit. Dein Vater wäre bestimmt stolz auf dich.«
»Aber wenn er erfährt, dass ich kein Vertrauen zu ihm gehabt habe, dann ist er wieder traurig.«
»Der soll sich nicht so haben! Weißt du was, Gerrit? Wir gehen jetzt klettern!« Böse Tanten hatten immer gute Argumente. »Ich zeige dir auch, wie ein Achterknoten geht.«
Die Helfer legten uns die Sitzgurte an. Da ich narbig Miene machte, vom Fach zu sein, sparten sie sich die Erklärungen. Gerrit kletterte wie eine Eidechse. Ich besann mich auf Technik. Immer drei Punkte an der Wand, nicht mit den Armen ziehen, sondern mit den Beinen stemmen, was an künstlichen Kletterwänden schwierig war.
»Und nicht an den Sicherungsbolzen fürs Seil festhalten«, ermahnte ich Gerrit. »Die sind tabu.«
Konzentriert suchte er sich Knubbel und Griffe und zog sich Meter für Meter hinauf. Auf dem Platz, der bereits überraschend klein unter uns lag, hatten sich plötzlich Leute versammelt, die Köpfe in den Nacken gelegt. Ich machte auch Janette aus, die ihre Kamera aus der Handtasche holte und anlegte. Neben ihr Laura.
Über uns kragte der Überhang.
»Langsam, Gerrit! Erst schauen! Diesen Vorsprung könntest du nehmen, den rechten Fuß dorthin. Dann kommst du mit der Hand an den Griff. Bereit? Dann los! Linker Fuß … ja, klasse, du hast es geschafft!«
Über mir ging die Sonne auf. Gerrit strahlte und wink te. Von unten brandete Applaus herauf. Neben Janette stand mittlerweile auch Hark Fauth.
»Für den Abgang nehmen wir das Seil«, wandte ich mich an Gerrit. Ich erklärte ihm, wie das ging. Beim Abseilen in Höhlen ließ man sich selbst mit Hilfe des Abseilers an der Leine hinab. Doch in der Kletterwand be stimmte der Mann, der unten am Seil sicherte, das Tem po, indem er Seil nachgab. »Und du hopst wie ein Känguru die Wand runter, nur rückwärts. Klar?« Ich wandte mich nach unten und schrie: »Er kommt!«
Gerrit hopste voller Vertrauen in den Mann am Boden. Ich folgte ihm. »Du bist gut«, sagte ich. »Wir müssen mal richtig klettern gehen.«
»Morgen?«
»Wenn es dein Vater erlaubt.«
»Papa!«, rief Gerrit, sprang aus den Resten seiner Sicherung und rannte zu seinem Vater. »Ich war ganz oben, hast du das gesehen? Und morgen will Lisa mit mir richtig klettern gehen. Darf ich, Papa? Bitte, bitte, bitte!«
Harks Antwort hörte ich nicht. Vor mir stand Laura und bohrte ihren Finger durch die Nase ins Hirn.
»Und nun du, Laura?«, sagte ich. Aber sie schüttelte den Kopf, dass die Zöpfe flogen, und drehte sich um.
»Sie hat Schiss«, sagte Janette nicht gerade leise. »Florian hat’s schon ein paarmal versucht.«
»Vielleicht hat sie Probleme mit dem Gleichgewichtsorgan«, sagte ich. »Das ist die häufigste Ursache von Höhenangst. Und dafür kann Laura nichts.«
»Ich kenne meine Tochter besser als du, glaub mir, Li sa. Sie ist ein Schisser!«
»Ich war ganz oben, Janette!«, platzte Gerrit zwischen uns. »Hast du das gesehen?«
»Ich habe es sogar fotografiert«, lächelte sie. »Und zur Belohnung gibt es jetzt ein Eis.«
»Ich will auch ein Eis!«, rief Laura.
»Wofür denn? Du hast doch nichts geleistet! Komm, Gerrit! Da vorn gibt es Eis.«
Lauras Augen füllten sich mit Wasser. Ich hatte schneller, als ich denken konnte, meine Geldbörse in der Hand und gab Laura ein Zweieurostück. »Für den Mut, Nein zu sagen.«
Eine halbe Sekunde lang sah Laura so aus, als hätte sie etwas verstanden. Dann rannte sie hinter Mutter und Gerrit her zur Zuckerbude, und ich konnte mich Hark zuwenden.
Er stand wie ein Baum in blauer Wetterjacke, Jeans und festem Schuhwerk, Sturmwolken in den Augen. »Wie andere ihre Kinder erziehen wollen, ist dir wohl völlig wurscht, was? Findest du nicht, du hättest mich vorher fragen sollen?«
»Wozu? Du hattest es Gerrit doch schon verboten.«
»Aus gutem Grund.«
»Du hast zu viel Angst um ihn.«
»Ich glaube, das kannst du nicht beurteilen!«
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