Höhlenangst
und mir das Wochenende über die Eingeweide zersetzt hatte, löste sich auf wie Aspirin in Wasser. Richard lebte! Aber bei den Vorwürfen saß er vermutlich noch länger. Ein Besuch musste vom Staatsanwalt genehmigt und im Gefängnis drei Tage vorher angemeldet werden. Den für Untersuchungsgefangene erlaubten monatlichen Betrag von 153 Euro 39 Cent konnte ich allerdings gleich auf das Konto der Zahlstelle der JVA Rottenburg überweisen. Damit Richard sich Äpfel kaufen konnte. Aber vermutlich bevorzugte er Zigaretten. Zehn Paar Socken standen einem Untersuchungshäftling zu, zehn Garnituren Unterwäsche, zwei Schlafanzüge, zwei Paar Straßenschuhe, ein paar Hausschuhe, zwei Hosen, zwei Freizeithosen, zwei Freizeitoberteile, zwei kurze Sporthosen, ein Paar Sportschuhe, ein Paar Badeschuhe, ein Bademantel, eine Wollmütze, ein Wollschal, ein Paar Handschuhe, eine Jacke, ein Mantel. Interessanterweise aber weder Oberhemd noch Pullover.
Um Richard Socken zu bringen, hätte ich entweder en gros einkaufen gehen oder bei ihm in der Kauzenhecke auf der Halbhöhe der Professoren, Chefärzte, Architekten und Anwälte einbrechen müssen. Die Jugendstiltüren mit Tiffanyglasoberlichtern hätten mir genauso wenig entgegenzusetzen gehabt wie den polnischen Kindereinbrecherbanden, die Oma Scheible in der Neckarstraße grundlos fürchtete. Doch zunächst brauchte ich die schriftliche Besuchsgenehmigung von der Staatsanwaltschaft in Tübingen. Ein Anrufbeantworter informierte mich über die Öffnungs- und Sprechzeiten: »… und nachmittags von Montag bis Donnerstag von vierzehn Uhr bis fünfzehn Uhr dreißig.«
Meine Patek Philippe tickte zwölf Uhr zweiundfünf zig. Am besten, ich sprach persönlich vor. Auf der Trep pe stoppte mich Oma Scheible. »Was hat das Finanzamt von Ihne welle?« Ihre Augen schillerten wie Aalsuppe.
»Machen Sie den Brief doch auf!«, schlug ich vor und sprang die Steintreppen aus grauem Granit zu der wackligen Haustür hinunter, hinter deren Wellglaselementen sich die Konturen eines Herrn abzeichneten, der mit dem Finger die Klingelschilder abrasterte. Ich riss schwungvoll die Tür auf und verschluckte mich. »Richard!«
Er lächelte.
»Scheiße, und ich habe dir gerade das Geld überwiesen! Wie kriege ich das jetzt wieder.«
»Bitte?«
»Einem Untersuchungsgefangenen stehen 153 Euro und ein paar Zerquetschte monatlich zu. Wusstest du das nicht? Ich dachte, damit du dir Zigaretten kaufen kannst.«
Er lachte. »Lisa, du –«
»Ich überrasche dich eben immer wieder.«
»Nein, ja … Ich meine, du scheinst ja kein großes Vertrauen in meine Unschuld gehabt zu haben.« Er nahm mich am Ellbogen und führte mich, freundlich grüßend, an Oma Scheible vorbei nach oben. »Ich sag dir«, seufzte er wie einer Wüstentour ohne Wasser entronnen, »wer da nicht durchdreht, hat Nerven wie Drahtseile.«
Ich machte die Wohnungstür hinter mir zu und versuchte mir vorzustellen, wie Richard durchdrehte.
»Dass man sich da so … so ausgeliefert fühlt, bis auf die Knochen ausgezogen, das hätte ich nicht gedacht. Juristisch giltst du als unschuldig, de facto bist du ein Schwerverbrecher. Nur, dass deine Lage ungewisser ist. Du weißt nicht, wie lange es dauert. Du kannst niemanden fragen. Du hast kein Telefon. Niemand hört dich. Du kannst nichts tun, um deine Lage zu ändern. Und du weißt nicht, was draußen geschieht.«
Ich schwieg taktvoll.
»Geholfen hat mir nur der Gedanke an dich und deine ohne Zweifel hektischen Bemühungen, mir zu helfen.«
Er hatte ja keine Ahnung, wie hektisch meine Bemü hungen gewesen waren. »Aber deine Botschaft war schon sehr hermetisch.«
»Dann hast du sie also geknackt?« Die Besoffenheit des knapp dem Untergang Entgangenen blitzte in seinen Augen.
»Keine gute Botschaft, Richard. Du wirst bestochen.«
»Nein, ich werde geschmiert. Aber der General ist informiert. Das Geld liegt auf einem Treuhandkonto der Staatsanwaltschaft.«
»Und wofür schmiert man dich?«
»Vermutlich für den Tag X, da die Person, die mich schmiert, vor Gericht gestellt wird. Dann wird sie mich und meine Abteilung als bestechlich disqualifizieren. Es sei denn, wir mildern unsere Anklage oder lassen sie fallen.«
Mein Festnetztelefon klingelte. Es war Sally, die sich nach meinem Befinden erkundigte. »Ich bin okay. Richard ist wieder frei«, teilte ich ihr mit. »Er demoliert gerade meine Kaffeemaschine.«
Richard war in die Küche geschlendert und hielt die Klappe des Wasserbehälters in
Weitere Kostenlose Bücher