Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
begannen zu kichern, dann zu lachen, und plötzlich platzte es aus allen heraus. Niemand schien sich mehr zu sorgen, dass der große Mann nun Victor zu Dauerwurst verarbeiten könnte, nein, alles schien in Ordnung zu sein. Leandra atmete erleichtert auf. Sie ließ sich sogar zu einem Lächeln hinreißen, nicht, weil sie Victors Ballade so geistreich gefunden hatte, sondern weil sie einfach über seine Dreistigkeit lachen musste.
Ein Hut war herumgegangen, und man warf Münzen für den Künstler hinein. Kurz darauf kam Victor mit breitem Grinsen an den Tisch, in der Rechten den Hut, und setzte sich gut gelaunt auf seinen Stuhl. Der Wirt hatte inzwischen Kartoffeln, Gemüse und Bier gebracht. Victor forschte in ihrem Gesicht. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, zischte sie ihm zu, konnte sich aber ein Lächeln nicht verbeißen. »So etwas zu singen - hier, in dieser Gegend? Die Hälfte der Leute hier dürften zu einer Räuberbande gehören!« »Genau deswegen!«, sagte er leise. »Auch Wegelagerer haben eine Seele, weißt du? Es ist ein mieses Leben - immer draußen im Wald zu leben und täglich mit dem Gefühl eines Stricks um den Hals einzuschlafen. Die Anführer solcher Banden sind zumeist knallharte Burschen. Da tut es einem einfachen Dieb verdammt gut, mal jemand über seinen Anführer spötteln zu hören!«
»Du redest ja, als wärst du selbst mal in so einer Bande gewesen!«
»Na ja, nicht direkt. Aber irgendwie schon. Es war eine verrückte Zeit!« Sie legte erstaunt die Stirn in Falten.
»Nun hab dich nicht so!«, zischte er. »Glaubst du, die Welt ist voller Engel?«
Er wurde vom Wirt unterbrochen. Der brachte zwei Krüge Bier, stellte sie auf den Tisch und gab zu verstehen, dass sie von dem dunklen Mann unter der Stiege spendiert worden waren. Victor warf Leandra einen gespielt angstvollen Blick zu. Er nahm einen der Krüge, wandte sich dem Mann zu und erhob seinen Krug.
Der Mann tat das Gleiche mit seinem Krug und trank. Leandra aber ließ ihren Krug demonstrativ stehen.
Als sie wieder abgesetzt hatten, winkte sie der große Kerl herbei. Victor sah zu Leandra. Sie hatte das Zeichen auch gesehen, rührte sich aber keinen Fingerbreit. Er zuckte die Achseln, erhob sich und ging mit seinem Krug zu dem anderen Tisch.
Sie blieb sitzen und spielte die edle Dame. Nach einer Weile kam Victor wieder und sagte, der Mann bäte in aller Höflichkeit darum, dass sie ihm die Ehre an seinem Tisch gäbe. Er würde es vorziehen, dort sitzen zu bleiben, da er sehr lichtempfindliche Augen hätte und es unter der Stiege dunkler wäre. Leandra murmelte, sie könne sich gut vorstellen, dass nicht nur seine Augen lichtempfindlich wären. Dann folgte sie Victor widerwillig. Ihren Krug ließ sie stehen.
Der Mann war groß, sehr groß. Wenn er stand, mochte er gute vier Ellen messen, wenn nicht sogar mehr. Er trug eine Lederrüstung, Leandras Kleidung nicht unähnlich. Sein Zweihänder-Schwert, das an der Wand lehnte, war von gewaltigen Ausmaßen. Jetzt, da sie ihm näher war, konnte sie trotz des Schattens unter der Stiege seine Gesichtszüge erkennen.
Er war ein unerhört schöner Mann. Nicht mehr ganz jung, Ende der dreißig oder Anfang vierzig, schätzte sie.
Sein sorgfältig rasiertes Gesicht besaß ausdrucksstarke Züge, und seine Haut war wettergegerbt. Seine Augen verrieten Humor, wenn sein Gesicht auch streng und hart wirkte. Er besaß eine Menge Grübchen und Falten von der Sorte, wie sie nur ein echter Charakterkopf trug. Jeder Bildhauer wäre entzückt gewesen, zumal der Mann den Eindruck erweckte, durchtrainiert und bärenstark zu sein. Leandra merkte, wie ihre Vorbehalte gegen den Kerl zerbröckelten wie eine trockene Sandburg unter der heißen Sommersonne. Mochte er ein Schurke der schlimmsten Sorte sein - er sah einfach traumhaft aus.
Seine Anrede war entwaffnend. »Ihr seid noch schöner, als meine Leute mir berichtet haben«, erklärte er und verzog dabei keine Miene. Sein Mund war breit, seine Lippen schmal und seine Zähne gepflegt.
»Danke«, sagte sie und blickte ihn ebenso unverwandt an. »Wenn Ihr Leute habt, dann seid Ihr gewiss ihr Anführer. Doch nicht etwa einer Räuberbande?«
Victor schnappte nach Luft, und der Mann verzog seine Mundwinkel zu einem winzigen Lächeln. »Ihr seid sehr mutig, junge Dame. Um nicht zu sagen, keck!«
Leandra ignorierte die Anspielung. Ihre Stimme war herausfordernd geworden, und es kam Victor fast so vor, als wolle sie damit etwas überspielen.
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