Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
erleben, erschien Leandra unerträglich. Schon vom ersten Augenblick an verspürte sie Gefühle, wie sie sie nur für ihre kleine Schwester Cathryn empfand. Sie wollte Alina wärmen und beschützen - und sie mussten es irgendwie schaffen, hier wieder herauszukommen.
Als eine angehende Magierin war Leandra immerhin ein wenig darauf vorbereitet, dass sie sich eines Tages auch einmal mit den weniger angenehmen Seiten des Lebens auseinander setzen musste, wenngleich sie niemals damit gerechnet hätte, auf so brutale Weise entführt zu werden. Alina hingegen war offensichtlich völlig unbedarft Opfer dieses Verbrechens geworden. Sie schien der Situation in keiner Weise gewachsen und saß nur zusammengekauert am Boden und schluchzte.
Sie schien aus höherem Hause zu stammen, doch Genaueres hatte sie Leandra in ihrem verzweifelten Weinen noch nicht sagen können. Sie wirkte in diesem schmutzigen Zimmer so fehl am Platz wie eine Seerose in der Gosse einer hässlichen Stadt.
»Ihr zwei werdet uns bald wieder verlassen«, sagte eines der Mädchen. »Besonders die Kleine da.«
Leandra sah überrascht auf. Die Stimme des Mädchens hatte höhnisch und verbittert geklungen.
»Warum?«, fragte sie verwirrt.
»Die am besten aussehen, sind gleich wieder weg«, sagte das Mädchen, und seine Stimme klang blechern, als hätte es sich absichtlich verstellt, um unattraktiv zu wirken. »Ich bin schon seit ein paar Wochen hier. Ich weiß nicht, ob ich darüber froh sein soll, dass ich so hässlich bin.«
Leandra sah sie an - sie war beileibe nicht hässlich. Sie musterte die anderen Mädchen. Eine große, dunkelhaarige mit hochangesetzten Brüsten und wunderschönen, schlanken Beinen lehnte an der Wand und starrte mit erloschenen Augen zu ihr herab. Eine andere, zierlich und hübsch, mit glatten dunkelblonden Haaren, kauerte rücklings an der Wand und peilte neugierig über ihre Knie, die sie umarmt hatte. Die letzten beiden Mädchen saßen in einer dunklen Ecke und hatten sich wie Kinder, die sich vor etwas fürchten, eng aneinander geklammert. Es war sehr warm im Zimmer.
»Das sind Jasmin und Roya, zwei Schwestern«, sagte die erste. »Sie wurden, soweit ich weiß, am helllichten Tag aus dem Garten ihres Hauses gezerrt, in einem kleinen Ort nördlich von Savalgor. Sie holen nicht alle aus den Quellen, weißt du?«
In Leandras Kopf formten sich erste Vorstellungen, was hier im Gange war. Sklaverei? Mädchenhandel? Sie hatte zuerst gedacht, man würde sie zur Hurerei zwingen wollen. Nach dem aber, was dieses Mädchen erzählte, würden sie von hier wieder wegkommen.
»Die große da ist Marina«, erklärte sie weiter. »Schau sie dir an! Sieht sie nicht phantastisch aus? Der Traum eines jeden Mannes. Ich schätze, noch zwei, drei Tage, dann sehen wir sie nicht wieder.« Sie lachte auf. »Was rede ich da? Dann sehe ich sie nicht wieder! Ihr beide werdet längst weg sein!«
»Hör mal...«, begann Leandra.
»Was?«
»Was geht hier vor? Werden wir verkauft?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Ich habe nie gesehen, dass Geld bezahlt wurde.« Sie starrte Leandra eine Zeit lang an. »Aber ich wette, dass es so ist. Würde gern wissen, was eine wie du wert ist.«
Sie machte wieder eine Pause. »Und was sie wohl für mich geben würden«, fügte sie noch hinzu. Ihre Stimme triefte vor Zynismus.
Leandra stand auf, ging zu ihr hin und legte ihr die Hand sanft auf die Schulter. »Du bist nicht hässlich«, sagte sie mit weicher Stimme. »Im Gegenteil. Ich finde dich sehr hübsch. Aber ... es ist für dich wohl unerträglich, dass du schon so lange hier bist, nicht wahr?«
Wie aufs Stichwort begann die andere zu weinen. Sie wandte den Kopf ab, und es brach plötzlich in Strömen aus ihr hervor. Nach kurzem Zögern nahm Leandra sie vorsichtig in die Arme. Der Tränenfluss kam nur umso heftiger. Ihre Haut war kalt, und ihre Muskeln waren verkrampft. Sie schluchzte herzzerreißend, und Leandra sah, dass auch die anderen Mädchen den Tränen nahe waren. Marina wandte sich schamvoll ab und wischte sich übers Gesicht. Alina blickte mit ihren wunderschönen Augen auf und trocknete sich mit dem Handrücken die Tränen im Gesicht. Die Schwestern, die an der Wand saßen, sahen teilnahmslos zu ihr hoch. Die kleine Dunkelblone starrte mit ernstem Blick auf den Boden vor sich und spielte mit dem Zeigefinger im Staub.
In Leandra regte sich eine unterschwellige Wut. Nachdem sich die schlimmste Tränenflut gelegt hatte, ließ
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