Höllenfracht
ausgerüstet. In Anadyr konnte er dann warten und die Abfang-Frequenzen beobachten, bis die B-52 irgendwo auftauchte. Sie dann abzufangen und abzuschießen, war kein Problem mehr. Und wenn sie doch nicht auftauchte - was aber ganz ausgeschlossen war -, konnte er immer noch in Ruhe auftanken, nach Ossora zurückkehren und versuchen, sich aus einer Kriegsgerichtsverhandlung herauszureden.
Er ignorierte die Aufforderung, eine neue Kennung zu geben, und nahm statt dessen mit seiner MiG-29 Kurs auf Anadyr. Er ging auf Radio-Frequenz Kommandoposten Anadyr. In einer halben Stunde würde er in Funkreichweite des Flugplatzes sein, und wenn er schließlich dort war, hatte er immer noch für fast eine Stunde Treibstoff.
ANADYR, SOWJETUNION,
MILITÄRFLUGPLATZ FÜR ABFANGJÄGER, LUFTABWEHR FERNOST
Sergej Serbjentlow widmete sich einer seiner wenigen Leidenschaften - dem chinesischen Essen. Das war hier in dieser entlegenen Ecke der Sowjetunion nicht gerade die verbreitetste Mode, aber möglicherweise war eben dies der Grund, warum es ihm so viel Spaß machte, chinesisch zu kochen und zu essen.
Es war etwas Besonderes, nicht Alltägliches. Unglücklicherweise war es eben diese Art unsowjetischen Denkens (und Essens!), die ihn überhaupt hierher nach Anadyr verschlagen hatte. Aber schließlich mußte jeder irgendwo landen.
Außerdem, so schlimm war es auch wieder nicht. Man war hier nicht eigentlich in der Verbannung, in dieser nordöstlichsten Ecke des ganzen Landes. Nein, es war mehr eine unvorhergesehene, unfreiwillige Versetzung. Er hatte Kost und Logis, Fahrzeuge zu seiner Verfügung und jeden Monat ein paar hundert Rubel extra, die er seiner Familie in Irkutsk schicken konnte.
Und obendrein hatte er auch Verantwortung und viel Selbständigkeit. In den vergangenen zwei Monaten und auch noch in den beiden kommenden war er der verantwortliche Verwalter eines Abfangjäger-Flugplatzes des Luftabwehrkommandos Fernost. Was spielte es für eine Rolle, daß gar keine Jagdflugzeuge da waren. Er war jedenfalls der Verantwortliche auf dem Flugplatz. Er war der oberste Polizist, Feuerwehrmann, Zahlmeister, Richter, Hausmeister und Bürgermeister von Millionenwerten an Geräten und Bauten.
Während der langen und dunklen Wintermonate war er der vermögendste und mächtigste Mann in dieser Gegend von Fischern, Fallenstellern und Holzfällern.
Sergej Serbjentlow hantierte mit einem Paar Eßstäbchen, um sich Nudeln und Fisch einzuverleiben. Die Gewürze und Kräuter seiner Küche stammten aus seinem eigenen Gewächshaus. Das Mehl für die Nudeln und den Fisch handelte er regelmäßig von den Fischern und den Dorfbewohnern der Umgebung ein. Es gab hier so gut wie alles.
Serbjentlow war überzeugt, daß die Fischer mit ihren Booten weit hinaus in die wilde Anadirskij Zaljiv fuhren, wahrscheinlich bis zur Saint-Lawrence-Insel, wenn nicht gar bis nach Nome in Alaska, um dort mit den Amerikanern Handel zu treiben.
Er roch mit der Nase nahe an den Nudeln und dem Fisch. Es war vielleicht eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung für ein Frühstück, aber schließlich wäre seine Alternative nur ein paar vier Monate alte rijepa - weiße Rüben - gewesen, die er von einem alten Gemüseweiblein im Dorf erstanden hatte - nein, danke.
Er führte die kräftig duftenden, scharf gewürzten Nudeln zum Mund und wollte sie sich eben hineinschieben, als die Doppeltür, die in den äußeren Korridor hinausführte, aufgestoßen wurde und zwei Gestalten in sein winziges Büro hereingepoltert kamen. Halb stolperten, halb stürmten sie auf die brusthohe Theke zu, die den Raum der Länge nach teilte.
Der größere der beiden zog sein rechtes Bein nach, das in voller Länge von der Hüfte bis zum Fuß mit geronnenem Blut bedeckt war.
Er hatte den Arm um die Schulter seines Begleiters gelegt, der in eine grobe olivgrüne Decke eingewickelt war.
»Gdje punkt skorej pomaschki!« rief der verletzte Mann mit hartem modulationslosem Akzent auf russisch. »Mein Bein! Wo ist das Lazarett?«
Serbjentlow fielen seine Nudeln fast in den Schoß. »Was?«
»Wo das Lazarett ist? Mein Bein -«
»Hier gibt es kein Lazarett. Was ist mit Ihrem Bein passiert?«
Sergej Serbjentlow ging rasch zu der Schaltertheke. Dort erst entdeckte er, daß der eine der beiden gar kein Mann war, sondern eine Frau. Sie hatte langes, salz- und pfeffer-graues Haar und tiefe, dunkle Augen - sie hätte durchaus eine Asiatin sein können, fand Serbjentlow. Ihre Zähne klapperten vor
Weitere Kostenlose Bücher