Hoellennacht
möchte über das reden, was meinen Eltern zugestoßen ist«, sagte Nightingale. » Über den Unfall.«
Harrison ließ die Schultern hängen, drehte sich um und schlurfte durch den Flur.
Nightingale sah Jenny an. » Möchtest du draußen warten?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. » Ich komme mit«, sagte sie.
» Das brauchst du nicht.«
» Ich möchte aber.«
Nightingale nickte und folgte Harrison. Der Flur war im selben trübseligen Grün gehalten wie der Korridor draußen. Eine nackte Glühbirne hing an einem ausgefransten Kabel, und auf einem Seitentisch neben einem gesprungenen Spiegel lag ein Stapel ungeöffneter Rechnungen. Als er am Spiegel vorbeikam, strich Harrison sich über die Sardellen. Jenny und Nightingale lächelten sich an.
Das Wohnzimmer war ein einziges Chaos. Dort standen zwei rote Kunststoffsofas; das eine war mit Zeitschriften überhäuft, die überwiegend pornographisch zu sein schienen, und auf dem anderen stapelten sich alte Pizzakartons. Der einzige Gegenstand von Wert in der Wohnung war ein großer LCD -Fernseher. Durch eine offene Tür erblickte Nightingale eine dreckige Küche mit einem fettverschmierten Gasherd und einer Spüle, in der sich das Geschirr stapelte.
» Wie lange leben Sie schon hier, George?«, fragte Nightingale. » Was hat Sie nach London geführt?«
Harrison zuckte die Schultern, antwortete aber nicht. Er ging zu einer Tür, die auf einen kleinen Betonbalkon hinausführte, und zog sie auf. Ein Fahrrad ohne Vorderrad lehnte dort an einer Kiste leerer Wodkaflaschen.
Jenny stand da und schaute auf den Fernseher. Eine junge Frau, die mindestens zweieinhalb Zentner wiegen musste, schrie einen Mann mit pickligem Gesicht an und beschuldigte ihn, mit ihrer Schwester ein Kind gezeugt zu haben, während das Publikum brüllte und die Fäuste schüttelte.
Harrison trat auf den Balkon hinaus, und Nightingale folgte ihm. Von der heruntergekommenen Sozialwohnung hatte man einen atemberaubenden Blick auf die Themse mit dem Palace of Westminster direkt gegenüber und rechts davon dem London Eye. Es war ein wolkenloser Tag, und man konnte meilenweit sehen. Hoch oben flogen Passagierflugzeuge den Flughafen Heathrow im Westen an.
Der Wind zerzauste Harrisons Sardellen, aber er schien es nicht zu bemerken. Er fuhr sich mit der rechten Hand übers Gesicht. » Warum nach all diesen Jahren?«, fragte er. » Warum jetzt?« Seine Sardellen flatterten wie eine Fahne.
» Ich muss mit Ihnen reden«, sagte Nightingale. Er nahm seine Marlboros heraus und bot Harrison eine an. » Über das, was meinen Eltern zugestoßen ist.«
» Ich rauche nicht«, sagte Harrison.
Nightingale steckte sich eine Zigarette an. » Wir sind eine aussterbende Art, wir Raucher«, sagte er.
» Der Teufel wird dich holen, Jack Nightingale«, sagte Harrison, das Gesicht eine ausdruckslose Maske und die Stimme dumpf und monoton.
Er schwang sich über die Balkonbrüstung. Nightingale erstarrte, die Zigarette mitten in der Luft. Er zuckte zusammen, als er den Körper neun Stockwerke weiter unten auf dem Beton aufschlagen hörte.
Jenny tauchte hinter ihm auf. » Mein Gott, Jack, was hast du getan?«
Nightingale wich zurück, die Zigarette in seiner Hand war vergessen. » Er ist einfach gesprungen«, sagte er. » Wir haben uns noch unterhalten, und dann ist er gesprungen.«
» Er ist gesprungen?«, fragte Jenny. » Warum sollte er denn springen?«
» Er hat mir gesagt, dass der Teufel mich holen wird, und dann ist er gesprungen.« Er wandte sich ihr zu. » Du hast ihn gehört, oder? Du hast gehört, was er gesagt hat?«
» Ich habe gar nichts gehört. Ich habe ihn einfach nur über die Brüstung fallen sehen.«
» Jenny, er hat mir gesagt, dass der Teufel mich holen wird. Du musst das doch gehört haben! Du hast direkt dort gestanden.«
» Jack, es tut mir leid…« Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust. » Ich muss gleich kotzen«, sagte sie.
» Wir müssen hier verschwinden– sofort«, sagte Nightingale.
» Du rufst nicht die Polizei?«
» Was soll ich den Bullen sagen? Dass er einen einzigen Blick auf mich geworfen hat und in den Tod gesprungen ist? Das wird mir keiner glauben.«
» Aber es ist die Wahrheit.«
» Sie werden annehmen, dass ich ihn gestoßen habe, Jenny.«
» Aber das hast du nicht.«
» Wir müssen gehen. Wir müssen alles abwischen, was wir berührt haben, und dann müssen wir gehen.«
» Was?«
» Die Kriminaltechniker«, sagte er. » Wir müssen alles abwischen,
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