Hörig (German Edition)
wirklich vorgegangen ist zwischen ihr und Schramm, davon finden Sie nichts in den Tagebüchern.»
«Warum haben Sie mir die denn ausgehändigt?», fuhr Edmund auf. Er fühlte sich auf den Arm genommen, hinters Licht geführt und vor einen Karren gespannt, den er nicht ziehen wollte, weil er nicht wusste, was der Karren geladen hatte. Aber was Paul da behauptete, konnte nicht sein. Alles in Edmund wehrte sich dagegen, in dem hilflosen Geschöpf, das ihm nun schon fünfmal auf einer Sesselkante gegenübergehockt hatte, eine Mittäterin zu sehen. Sie war das personifizierte Opfer.
«Schramm sagte sowohl im Polizeiverhör als auch in der Verhandlung, dass er ihr die Schlüssel …», begann er noch einmal.
«Aus der Tasche gestohlen hat, während er sie befummelte», unterbrach Paul ihn erneut und winkte zum zweiten Mal ab. «Ich weiß, was Schramm gesagt hat, Herr Doktor. Ich habe es oft genug gelesen und vor Gericht auch noch mehrfach gehört. Aber so kann es nicht gewesen sein. Patrizia ist doch nicht aus heiterem Himmel und ganz von allein auf die Idee gekommen, Bauchschmerzen vorzutäuschen und ihre Sporttasche zu packen.»
«Vielleicht hat Schramm ihr gesagt, dass er mit ihr fliehen will, weil ihre Liebe keine Chance hat, solange sie hierbleiben», bot Edmund eine Alternative.
Paul lächelte schmerzlich. «Das hätte sie einfacher haben können. Sich morgens mit ihm treffen, wie sie es ohnehin tat, und gemeinsam verschwinden, statt zur Arbeit zu fahren. Wieso hatte sie Bauchschmerzen? Ausgerechnet an dem Morgen, an dem Albert schwer verletzt in der Werkstatt lag und Alwine gefesselt und geknebelt im Schlafzimmer? Patrizia fing immer kurz nach acht in der Schmiede an. Die Haushaltshilfe kam eine Stunde später. Womit hätte Patrizia die Haustür aufschließen sollen, wenn sie zur Arbeit gefahren wäre?»
«Wieso verfügte sie überhaupt über diese Schlüssel?», fragte Edmund, weil ihm nichts mehr einfiel, womit er ihre Unschuld hätte verteidigen können. «Sie war im ersten Jahr ihrer Ausbildung.»
«Sie war meine Tochter», hielt Paul dagegen. «Albert hat ihr ebenso vertraut wie mir. Alwine hatte sich vier Monate zuvor einer Hüftoperation unterziehen müssen und war anschließend noch für einige Wochen zur Reha. Albert ging meist schon um halb acht hinunter in die Schmiede. Wenn er dort die Tür hinter sich schloss, was er häufig tat, wenn es laut zuging, hörte er die Türklingel nicht. Nachdem Patrizia ein paarmal Sturm hatte klingeln müssen, ließ er die Schlüssel für sie anfertigen. Als Alwine aus der Reha kam, war sie noch nicht wieder so schnell wie zuvor. Wozu hätten sie Patrizia die Schlüssel wieder wegnehmen sollen? Vor Gericht nannten sie es einen besonderen Vertrauensbeweis.»
Paul seufzte und wischte sich über die Augen, ehe er weitersprach: «Wahrscheinlich hat dieser elende Hund ihr weisgemacht, mit den Schlüsseln sei es ein Kinderspiel, bei dem niemand zu Schaden käme.»
Paul sagte noch mehr. Aber sosehr er sich auch abquälte, es führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass seine Tochter Schramms Plan gekannt und nichts unternommen hatte, um ihn zu vereiteln. Im Gegenteil, sie hatte sich darauf vorbereitet, mit ihm zu verschwinden. Und was Schramm betraf, gab es nur eine Erklärung für sein Verhalten und seine Aussagen vor der Polizei und in der Verhandlung: Er liebte Patrizia und hatte sie geschützt, soweit ihm das noch möglich war.
«Machen wir uns doch nichts vor, Herr Doktor», sagte Paul. «Auch ein Dreckskerl hat Gefühle.»
Der letzte Satz musste ihn große Mühe gekostet haben. Bevor Edmund ihm antworten konnte, befahl er: «Aber das muss sie wirklich nicht wissen. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Bleiben wir bei der Version, dass Schramm sie ausgenutzt hat. Kann ich mich darauf verlassen, Herr Doktor?»
Edmund hatte fast ein bisschen Mitleid mit ihm. «Nein, Herr Großmann», erklärte er. «Ich werde die nächsten Stunden damit verbringen, ihr in Erinnerung zu rufen, dass dieser Mann sie mehr liebt, als wir – Sie und ich – uns vorstellen können. Vielleicht gelingt es mir, damit den Panzer zu durchbrechen, mit dem sie sich umgeben hat. Aber das ist für Sie kein Grund zur Sorge. Wenn es mir gelingt, Patrizia noch einmal von Schramms Liebe zu überzeugen, kann ich ihr auch jederzeit das Gegenteil suggerieren.»
«Stellen Sie sich das mal nicht so einfach vor, Herr Doktor», sagte Paul. «Von seiner Liebe überzeugt ist sie nach wie vor, sonst
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