Hörig (German Edition)
gestört haben könnte? Hatten Sie vielleicht Mundgeruch?»
Es war gemein, sie das zu fragen. Sie hatte welchen, seit sie kaum noch etwas aß. Ihre Mutter sagte mehrmals am Tag: «Patrizia, du musst essen, du riechst so streng aus dem Mund. Das ist Nüchternatem. Bei leerem Magen hilft es nicht, wenn du dir die Zähne putzt.»
Wahrscheinlich hatte Ed diesen Nüchternatem auch gerochen, als er sie begrüßte. Aber an dem verregneten Morgen mit Heiko hatte sie gefrühstückt und anschließend Zähne geputzt. Da konnte ihr Atem nicht unangenehm gerochen haben.
«Nein, es war der Regen», hatte sie Ed widersprochen. «Heiko wollte nicht, dass ich …»
… mir einen Schnupfen hole? Wie profan. Das hatte sie nicht mehr über die Lippen gebracht, nicht Ed gegenüber. Er glaubte doch ohnehin, dass Heiko sie nur hingehalten hatte. Deshalb formulierte sie den Satz völlig neu. «Er hat es doch auch nicht abgelehnt, mich zu küssen. Er hat es auf seine Weise gemacht. Er hat immer alles auf seine Weise gemacht.»
«Und was haben Sie gemacht, Patrizia?»
«Ich bin zur Arbeit gelaufen.»
«Sie waren sehr erregt. Haben Sie sich selbst befriedigt?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«In der Werkstatt? Herr Retling war doch auch da.»
«Es gab doch bestimmt einen Waschraum.»
«Sicher. Aber so was habe ich nie gemacht. Heiko mochte das nicht. Er sagte, er findet es nicht gut, wenn eine Frau an sich selbst herumspielt.»
«Selbstbefriedigung ist völlig in Ordnung», hatte Ed gesagt. «Nur prüde und verklemmte Menschen wie Ihr Vater lehnen das ab.»
Bis dahin hatte sie gedacht, Ed sei in allem einer Meinung mit ihrem Vater. Aber das klang anders. Und da hatte sie plötzlich dasselbe Bedürfnis gehabt wie an dem Abend in der Disco.
Du lässt dich fallen, und er fängt dich auf.
Und diesmal war es eben Ed, der sie auffing.
Und Ed hatte sie gehalten, fast sieben Jahre lang.
Nein, nicht ganz.
Gehalten hatte Ed sie nur in den ersten beiden Jahren. Danach hatte er sich in Eddi verwandelt und gedacht, sie könne jetzt auf ihren eigenen Beinen stehen. Immerhin noch neben ihm, sodass er im Notfall zur Stelle wäre.
Es tut mir leid, Ed, dachte sie wieder. Es tut mir leid, Ed. Es tut mir leid, Ed.
Das Haus, in dem damals ein gutgläubiger, wehrloser Mann fast totgeschlagen und -getreten worden war, unterschied sich äußerlich nicht von den anderen in der Straße. Es war ein älteres, anderthalbgeschossiges Einfamilienhaus mit einem kleinen Vorgarten und einem größeren Garten dahinter.
Alwine Retling hatte sich früher mit wahrer Leidenschaft um den Garten gekümmert und Patrizia schon Ratschläge erteilt, als noch niemand erwarten konnte, dass sie die jemals brauchen würde. Dass Alwine Retling inzwischen nicht mehr dieselbe Kraft hatte wie noch vor Jahren, bewies die Vogelmiere zwischen den kleinen Buchsbäumchen im Vorgarten. Ein ungeübtes Auge hätte sie aber auch für weißblühende Bodendecker halten können.
In den letzten drei Jahren hatte Patrizia sich bei der Gartenarbeit häufig an den einen oder anderen guten Tipp erinnert und jedes Mal die Frau vor sich gesehen, die damals um so vieles mütterlicher gewirkt hatte als ihre eigene Mutter. Ein rundliches, freundliches Gesicht, eine kompakte Figur, nicht dick, aber auch nicht schlank.
Nun war Alwine Retling hager, ihr Gesicht spiegelte Sorge und Erschöpfung, manchmal auch Misstrauen wider. Was Patrizia ihr nicht verdenken konnte. Alwine Retling war immer noch ein gutmütiger Mensch, aber sie hatte nicht dasselbe große Herz wie ihr Mann. Wobei Patrizia nicht sicher war, ob Albert Retlings Herz ihn veranlasst hatte, ihr zu verzeihen, oder ob es andere Gründe gewesen waren.
Nachdem Ed aus vierzig Kilo Haut und Knochen mit einer Menge hirnverbranntem Schwachsinn im Schädel wieder eine ansehnliche und eigenständig denkende junge Frau gemacht und sie in Düsseldorf ihre Ausbildung beendet hatte, war er mit ihr nach Raderthal gefahren. Und Albert Retling hatte sich bereit erklärt, ihr das beizubringen, was übers Handwerk hinausging, die Kunst.
Seine rechte Hand nannte er sie seitdem. Sein rechtes Bein konnte sie ihm nicht ersetzen. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um von der Diele in die Werkstatt zu gelangen. Und wie oft fiel ihm auf der Treppe die Krücke aus der Hand.
Fünf rötliche Sandsteinplatten, zwischen denen Grashalme und Löwenzahn sprossen, führten vom schmalen Gehweg zur Haustür. Eine schmucklose Tür, einfach und glatt, aus massivem Holz
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