Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
allein zurechtzukommen? Nach einer langen schrecklichen Nacht im Bus dämmert es, und Jonna stolpert an derselben Haltestelle auf die Straße wie gestern und will eigentlich wieder ins Schwimmbad gehen, aber dann verläuft sie sich.
Oh, sie ist so verdammt verloren, es kann doch nicht weit sein, siebzig Meter vielleicht. Sie sucht verzweifelt, und weil es so irre früh am Morgen ist, trifft sie nicht einmal jemanden, den sie fragen könnte, und als da endlich jemand ist, schafft sie es nicht mehr zu fragen.
Der Typ, der am Kiosk arbeitet, steht da und montiert die Schlagzeilen des Tages in die Aufsteller, und Jonna bleibt stehen und liest mit einem Stein im Magen. »Das beste Essen für die Feiertage«, steht da auf dem ersten, und die Buchstaben sind mit Weihnachtsmannmützen und Tannenzweigen verziert. Jonna stampft mit den Füßen, um ihre Zehen zu wärmen, und wartet auf das nächste Plakat. Aha. »Extradicke Fernseh-Beilage« steht darauf. Sie bläst sich in die Hände und schlägt die Arme um den Leib. Und auf dem dritten prangt: »Alles über Kattis neue Liebe – Exklusiv-Interview«.
Zwei Tage vor Heiligabend kein Wort über eine ver schwundene Sechzehnjährige.
Weshalb sucht niemand nach ihr?
Auf Mallorca wissen sie wahrscheinlich noch nichts, aber inzwischen müsste doch wenigstens ihre Großmutter begriffen haben, dass sie abgehauen ist. Und zwar richtig. Dass sie wirklich richtig abgehauen ist. Ist Großmutter das egal? Warum ruft sie nicht bei der Polizei an?
»Wollen Sie vor mir rein?«
Sie fährt zusammen, als sie plötzlich angesprochen wird, ein Vater mit einem Doppel-Kinderwagen möchte den Kiosk verlassen, er hält die Tür auf und zeigt Jonna, dass sie durchschlüpfen kann, ehe sein Bugsieren mit dem breiten Wagen den Eingang blockieren wird. Im Wagen sitzen ein Baby und ein Kind von ungefähr drei Jahren, ein verrotztes, hässliches Mädchen, das auf eine Weise »Banane!« ruft, dass man ihm am liebsten eine knallen möchte.
»Äh, danke.«
Jonna huscht in den Laden, findet die Zeitungsständer beim Tresen und fängt an zu blättern. Vielleicht steht in einer der Zeitungen etwas über sie. Bestimmt. Sie sucht die Seiten von oben nach unten ab. Derweil wendet der Vater, schiebt den Wagen wieder in den Laden und kauft eine Banane. Für dieses schreiende Balg? Ja, und er klingt nicht einmal wütend, sondern teilt die Frucht in mittelgroße Stücke und füttert das Mädchen, während er liebevoll und begütigend auf das Kind einredet.
»So, hier … so.«
In der ersten Zeitung steht nichts. In der zweiten auch nicht. Das Kind quengelt nur noch lauter, wirft die Bananenstückchen auf den Fußboden und biegt im Wagen den Rücken wie eine Brücke durch. Jonna beobachtet die Szene, jetzt wird er doch langsam genug haben, oder? Aber nein, er nimmt das Mädchen mit sanftem Griff hoch, umarmt sie und fängt an, ihr das verrotzte Gesicht zu küssen.
»Komm, jetzt gehen wir und kaufen ein Weihnachtsgeschenk für die Mama. Das macht Spaß.«
In der dritten Zeitung steht auch nichts.
Der Vater benutzt dieselben Worte wie ihre Klassenkameradinnen im Ullvi. Das wird spaßig mit den Weihnachtsgeschenken und gemütlich an Weihnachten, und so ist es wahrscheinlich auch, wenn man jemanden hat. Wenn man zusammengehört, wenn man so widerlich bedingungslos geliebt wird wie dieses verrotzte Kind; und jetzt kann Jonna einfach nicht mehr um Hilfe bitten.
Ob man es ihr ansieht? Hat dieser Vater sie nicht schon etwas komisch angeschaut, als sie reinging? Ob er gleich gesehen hat, dass sie an allem scheitert? Dass hier ein Mensch steht, dessen Eltern sich nie richtig gekümmert haben, jemand, den nicht mal seine eigene Großmutter liebt.
Der Vater bugsiert den Doppelwagen aus dem Kiosk, und Jonna weiß nicht, wohin sie schauen soll. Vielleicht sollte sie akzeptieren, dass man nicht immer so verdammt viel Hoffnung haben durfte. Wenn sie das doch nur lernen könnte. Aber wohin dann mit all der Scham?
Diese Liebe, die überall auf der Erde alle Säugetiere auf Anhieb für ihre Jungen empfinden, die ist doch ein Beleg dafür, dass man etwas wert ist, dass man willkommen ist.
Was ist man ohne sie?
Ihr wird abwechselnd heiß und kalt, und als der Vater mit den Kindern endlich verschwunden ist, geht auch sie. Wie ein verdammter Straßenköter schleicht sie davon, und plötzlich fühlt es sich an, als wäre sie schon ihr ganzes Leben lang obdachlos.
*
»Ja, hallo …«
Oh nein, oh nein, nicht schon
Weitere Kostenlose Bücher