Hohle Köpfe
Geräusche der Stadt über die
Mauern hinwegstrichen. Auf der anderen Seite des Schlachthauses blök-
ten gelegentlich besorgte Schafe. Dorfl stand völlig reglos, in der einen
Hand das Beil und in der anderen die Schnur. Er starrte auf den Boden.
»Ist das ein Troll, der versucht, einem Menschen zu ähneln?« fragte
Grinsi. »Sieh dir nur die Augen an…«
»Das ist kein Troll, sondern ein Golem«, entgegnete Angua. »Ein We-
sen aus Ton. Besser gesagt: ein Apparat.«
»Er hat gewisse Ähnlichkeit mit einem Menschen.«
»Weil er ein Apparat ist, dem man menschliche Form gegeben hat.«
Angua wanderte um das Geschöpf herum. »Ich möchte deine Worte
lesen, Dorfl.«
Der Golem ließ die Ziegenleine los, hob das Hackbeil und rammte es
in den Holzklotz neben Grinsi – was die Zwergin erschrocken beiseite
springen ließ. Dann griff er nach einer Schiefertafel, die er um den Hals
trug, nahm einen Stift und schrieb:
Ja.
Angua hob die Hand, und Grinsi bemerkte eine dünne Linie auf der
Stirn des Golems. Verdutzt beobachtete sie, wie seine Schädeldecke auf-
klappte. Angua griff gelassen hinein und holte eine Schriftrolle aus dem
Kopf.
Der Golem erstarrte, und das Glühen in den Augen verblaßte.
Angua entrollte das Pergament. »Eine heilige Schrift dieser oder jener
Art«, sagte sie. »Das ist immer so. Die Worte stammen aus irgendeiner
alten Religion.«
»Hast du das Wesen getötet?«
»Nein. Wie sol man Leben auslöschen, das überhaupt nicht existiert?«
Angua legte die Rol e zurück in den Kopf und schloß die Schädelklap-
pe.
Der Golem rührte sich wieder. Das seltsame Licht kehrte in seine Au-
gen zurück.
Grinsi hatte unwillkürlich den Atem angehalten und ließ ihn jetzt zi-
schend entweichen. »Was hat das al es zu bedeuten ?« brachte sie hervor.
»Sag es ihr, Dorfl«, erwiderte Angua.
Die dicken Finger des Golems bewegten sich schnel , der Griffel kratz-
te über Schiefer.
Ich bin ein Golem. Aus Ton hat man mich gemacht. Die Worte sind mein
Leben. Die Worte des Zwecks in meinem Kopf geben mir Leben. Meine Aufga-
be besteht darin zu arbeiten. Ich gehorche allen Befehlen. Ich ruhe nie.
»Welche Worte des Zwecks?«
Wichtige Texte, die das Zentrum des Glaubens bilden. Golem muß arbeiten.
Golem braucht einen Herrn.
Die Ziege ließ sich neben dem Golem nieder und begann wiederzu-
käuen.
»Zwei Personen sind ermordet worden«, sagte Angua. »Ich bin ziem-
lich sicher, daß ein Golem eine der Taten verübt hat, vielleicht sogar
beide. Weißt du etwas darüber, Dorfl?«
»Entschuldige bitte«, warf Grinsi ein. »Wil st du etwa behaupten, das
›Leben‹ dieses… Dings besteht aus Worten ? Ich meine, es behauptet so etwas…«
»Hältst du das für absurd? Worte haben Macht. Das weiß jeder. Es gibt
mehr Golems, als du glaubst. Sie sind aus der Mode geraten, haben je-
doch lange Bestand. Sie können unter Wasser arbeiten, in völliger Dun-
kelheit oder knietief in Gift. Jahrelang. Sie brauchen weder Ruhe noch
Nahrung. Sie…«
»Aber das ist Sklaverei!« entfuhr es Grinsi.
»Natürlich nicht. Genausogut könnte man einen Türknauf versklaven.
Hast du mir irgend etwas zu sagen, Dorfl?«
Grinsi blickte immer wieder zu dem Hackbeil, das in dem Holzblock
steckte. Worte wie lang, schwer und scharf füllten ihren Kopf mehr aus als irgendwelche heiligen Schriften den Schädel eines Golems.
Dorfl schwieg.
»Wie lange arbeitest du schon hier, Dorfl?«
Seit inzwischen dreihundert Tagen.
»Hast du auch Freizeit?«
Soll das ein Witz sein? Was könnte ich mit freier Zeit anfangen?
»Ich meine, bist du immer im Schlachthaus oder verläßt du es manch-
mal?«
Manchmal kümmere ich mich um Auslieferungen.
»Und begegnest du dabei anderen Golems? Jetzt hör mal, Dorfl: Ich weiß, daß ihr irgendwie in Kontakt steht. Und wenn Golems zu Mördern werden, sehe ich ziemlich schwarz für eure Zukunft. Dann treffen hier
bald Leute mit Fackeln und Vorschlaghämmern ein. Verstehst du?«
Der Golem zuckte mit den Schultern.
Sie können nicht nehmen, was nicht existiert, schrieb er.
Angua hob die Arme und ließ sie wieder sinken. »Ich versuche, freund-
lich zu sein«, sagte sie. »Ich könnte dich auch einfach beschlagnahmen,
zum Beispiel unter der Anklage: ›Du bist stur, obwohl ein langer Tag
hinter mir liegt und ich sehr, sehr müde bin.‹ Kennst du Pater Tubelcek?«
Der alte Priester. Wohnt auf der Brücke.
»Woher kennst du ihn?«
Ich bin ihm bei Auslieferungen
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