Hollys Weihnachtszauber
immer noch scharfen blauen Augen. Auch wenn sie im Alter runzelig geworden war, hatte sie das nicht davon abgehalten, über den Augen eine kühne Lage türkisen Lidschatten aufzutragen und dazu eine üppige Schicht Grundierung nebst Puder und glänzend scharlachrotem Lippenstift. Unter der weißen Spitzenschürze trug sie eine pfirsichfarbene Satinbluse mit riesigen Fledermausärmeln, die an den Handgelenken in enge Manschetten mündeten, und ein dazu passendes Crimplene-Trägerkleid. Ihre streichholzdünnen Beine in hauchdünnen, locker sitzenden Strümpfen steckten in spitz zulaufenden Schuhen mit sehr hohen Pfennigabsätzen. Ich fand es beruhigend, dass sie sich am Teewagen festhalten konnte.
»Die Agentur sagte, Sie kämen allein, obwohl ein Ehepaar wirklich besser gewesen wäre. Aber ich nehme an, wir können von Glück sagen, über Weihnachten kurzfristig überhaupt irgendwen zu bekommen«, sagte sie und musterte mich kritisch.
»Ich bin überzeugt, Sie werden bestens zurechtkommen!«, erklärte ihr Gatte.
»Das bleibt abzuwarten, Noel«, fauchte sie zurück. »Miss oder Mrs?«, wollte sie plötzlich mit Blick auf meine unberingte linke Hand wissen.
»Mrs«, sagte ich, »ich bin verwitwet. Ich koche viel, von daher hatte ich es noch nie sehr mit Ringen.«
»Verwitwet? So ein Pech«, sagte sie und nahm die Hauben von einigen Platten, unter denen Sandwichröllchen und Biskuitkuchen in Schmetterlingsform zum Vorschein kamen.
»Sie hätten sich aber keine solche Mühe zu machen brauchen«, protestierte ich. »Ich hatte wirklich keine Essenseinladung erwartet, wenn ich nur die Schlüssel abhole!«
»Nicht der Rede wert – wir essen ohnehin immer früh zu Mittag, sodass ich nur etwas mehr gemacht habe. Meine Haushälterin ist wie üblich über Weihnachten nach Hause gefahren, aber ich koche sowieso das meiste selbst – macht mir gar nichts aus. Ich habe früher fürs Fernsehen gekocht, wissen Sie, in den Anfangszeiten. Wenn ich gewusst hätte, wann genau Sie kommen, hätte ich schnell ein Soufflé auf den Tisch gezaubert.«
»Das hier sieht köstlich aus«, sagte ich und nahm ein Sandwich. »Dann waren Sie wohl eine Fernsehköchin, so wie Fanny Craddock?«
Ihre Miene verfinsterte sich beängstigend, und auch ohne Noels entsetztes Kopfschütteln war mir klar, dass ich voll ins Fettnäpfchen getreten war.
»Sprechen Sie mir bloß nicht von dieser Person«, fauchte sie. »Die war nichts als eine aufgeblasene Dilettantin!«
»Verzeihung«, sagte ich rasch.
»In jenen Tagen war ich Tilda Thompson – und sehr viel fotogener, als die je gewesen ist, mit all der Schminke und den künstlichen Wimpern.« Hier schien mir zwar ein Esel den anderen ein Langohr zu schimpfen, doch ich gab einen vage zustimmenden Laut von mir.
»Kaffee?«, fuhr Noel in fröhlichem Tonfall dazwischen und füllte mir mit leicht zitternder Hand eine Tasse.
»Danke schön.« Nachdem ich von dem Sandwich gekostet hatte, lechzte ich nach irgendetwas, um den Geschmack hinunterzuspülen … von was auch immer der rühren mochte.
»Hast du Jessica gerufen?«, fragte Tilda Martland ihren Gatten.
»Als ich zur Tür ging, meine Liebe. Aber vielleicht sollte ich noch einmal rufen.«
Im Obergeschoss knallte eine Tür, und Getrampel wie von einer Herde volltrunkener Nashörner donnerte die Treppe hinab.
»Nicht nötig«, meinte sie trocken.
Jess war ein großes, dünnes, dunkelhaariges Mädchen von etwa zwölf oder dreizehn (nicht ganz so groß wie ich in diesem Alter, aber noch dünner), von der Brille bis zu den Schuhen ganz und gar in Schwarz gekleidet. Nie war ich jemandem begegnet, der weniger nach einer Jessica aussah. Sie bildete einen scharfen Kontrast zu dem kitschigen, mit Ornamenten überladenen und vor Weihnachtsschmuck strotzenden Wohnzimmer.
»Das ist unsere Enkeltochter Jessica«, erklärte Noel Martland.
»Jess, Opa«, korrigierte sie in gelangweilt leidendem Tonfall.
Liebevoll lächelte er sie an. »Jess, das hier ist Mrs Brown, die sich um Old Place kümmert, bis dein Onkel Jude zurückkommt.«
»Bitte sagt doch alle Holly zu mir«, schlug ich vor.
»Dann musst du uns auch Tilda und Noel nennen.«
Jess beäugte mich neugierig mit diesem leicht verschlagenen Blick Jugendlicher, aus dem im Allgemeinen nicht viel mehr spricht als große Unsicherheit. »Ich bin nur deshalb allein hier, weil meine Eltern in der Antarktis sind. Aber jetzt, wo mein Großonkel tot und Jude irgendwo anders hin abgezwitschert ist, können
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