Hollys Weihnachtszauber
sei, doch das lehnte ich ab, da N mich eindeutig verlassen hat und es von vorneherein nicht ernst gemeint haben kann, nachdem er bereits mit einer anderen verlobt war. Dann aber beteten wir gemeinsam um göttliches Geleit …
Juni 1945
Gestern Abend schlief ich über einer weiteren dieser langen, moralisierenden Passagen in Omas Tagebuch ein, in der sie diesmal beschrieb, was Mr Bowman in seinen Gebeten gesagt hatte (die er offenbar laut sprach, denn sie konnte ja nicht Gedanken lesen) und wie dankbar sie war, dass er ihr nicht die Tür gewiesen hatte wie ihre Eltern.
Dann verglich sie ihre Lage lang und breit mit dem Pfuhl der Verzweiflung in dem Buch The Pilgrim’s Progress , »Eines Christen Reise nach der seligen Ewigkeit«.
Die Zeiten damals waren so anders. Und es war mir unbegreiflich, wie Ned sie derart herzlos im Stich hatte lassen können.
Als ich Merlin hinausließ, sah ich, dass kein weiterer Neuschnee mehr gefallen war, doch machte das Winter-Wunderland auch keine Anstalten, so bald wieder zu schwinden: Weiß waren Strauch und Äste, wie in dem Weihnachtslied vom guten König Wenzeslaus.
Wieder kam Jude kurz nach mir herunter, aber da er mir bei meinen Vorbereitungen für den Tag nicht in die Quere kam, würde es mich nicht stören, wenn das zur Gewohnheit wurde. Eigentlich fand ich es ganz praktisch, jemanden zu haben, der mir während der Arbeit immer wieder eine Tasse Tee oder Kaffee hinstellte, sich um das Feuer kümmerte und dies und jenes in Haus und Hof erledigte, auch wenn es bis jetzt noch nicht so aussah, als ob er mich in Sachen Staubsaugen beim Wort nehmen wollte.
Becca war auch recht früh unten, doch Jess war zu ihrer großen Erleichterung inzwischen vom morgendlichen Pferdestall-Ausmisten befreit. Wahrscheinlich übte sie sich bereits darin, zu einem eher nachtaktiven Teenager zu mutieren.
Meine erste Aufgabe an diesem Morgen war, das restliche Fleisch von dem Truthahngerippe zu lösen und die Knochen mit Wasser aufzusetzen, um Brühe daraus zu kochen. Dann verwandelte ich die Reste des großen Gockels – wirklich eine erstaunliche Menge – in ein würziges Currygericht für die Tiefkühltruhe. Einige Stückchen landeten auch in Merlins Magen.
Als ich damit fertig und die Küche erfüllt war von dem Aroma leise köchelnder Brühe und reichhaltiger Gewürze, kamen Becca und Jude aus den Ställen wieder herein und brachten einen nicht unangenehmen Hauch von warmem Pferd und Heu in die Duftmischung mit ein.
»Hier riecht es aber gut«, sagte Jude anerkennend.
»Nur Bouillon und Geflügel-Curry für die Tiefkühltruhe.«
»Was machst du da gerade?«, fragte Becca. »Ist das nicht der alte Fleischwolf?«
»Ja, ich habe ihn in einer der Schubladen gefunden.« Eben hatte ich ihn an der Kante des Küchentischs festgeschraubt. »Ich mache Hackfleisch für Hamburger – die gibt es heute zum Abendessen.«
»Was, du verarbeitest meine besten Steaks aus der Tiefkühltruhe zu Hamburgern?«, empörte sich Jude, wie zu erwarten, als er das Fleisch auf dem Teller sah.
»Es gibt nicht genügend Steaks für jeden, aber durch den Wolf gedreht ist es genug Fleisch, um Hamburger zu machen – und die werden ganz köstlich, du wirst schon sehen«, versprach ich und drehte munter die Kurbel.
»Das muss ich dir glauben«, sagte er und betrachtete mich mit diesem inzwischen so vertrauten Zucken im Mundwinkel, »alles andere, das du bis jetzt gekocht hast, war es jedenfalls!«
»Das stimmt, Jude sollte dir eine Festanstellung anbieten«, schlug Becca mit einem Grinsen vor.
»Er könnte sich mich gar nicht leisten.«
»Könnte ich sehr wohl, ich verstehe überhaupt nicht, warum du so hartnäckig unterstellst, ich würde am Hungertuch nagen.« Auf dem Weg zur Tür – vermutlich wollte er sich umziehen und rasieren, denn er sah wieder aus wie ein mexikanischer Bandit – blieb er stehen. »Können wir Pommes zu den Hamburgern bekommen?«
»Meine Version davon: Ofenkartoffeln vom Blech mit ein bisschen Olivenöl und Kräutern.«
Als er zurückkam und so zivilisiert aussah, wie es einem Yeti möglich ist, half er mir wieder, für alle das Frühstück zu machen, dann zog er in sein Atelier ab und erinnerte mich daran, nach dem Lunch herunterzukommen und ihm etwas zu essen mitzubringen, sodass dies offenbar nun zu unserem Tagesablauf wurde. Vielleicht wollte er mich auch einfach nur in seiner Nähe haben, falls er plötzlich das Bedürfnis hatte, die Pose zu überprüfen? Andererseits
Weitere Kostenlose Bücher