Holz und Elfenbein
Hochschulen veranstalteten sogar regelrechte ›Hanon-Marathons‹ und ermittelten, wer die Übungen am schnellsten in die Tasten klopfen konnte.
Während er nun selbst an einer Beethovensonate arbeitete, sie bildete eines der Stücke, das er gedachte bei seiner Klavierprüfung nächsten Monat zu spielen, beruhigte er sich wieder etwas und als gegen Mittag Federico das Zimmer betrat, bedrängte er diesen nicht gleich mit Vorwürfen sondern spielte zuerst konzentriert den dritten Satz zu Ende.
»Hm, die Waldstein-Sonate?« Es war eigentlich keine Frage, denn selbstverständlich hatte Federico das Stück schon längst erkannt. Mit Sicherheit war die Sonate sogar Teil von Federicos Repertoire gewesen.
»Falls du Hilfe brauchst, lass es mich wissen«, zwinkerte Federico und griff nach den anderen beiden Notenbüchern. »Es sind deine alten Bücher. Mary-Alice hat sie für mich aus dem Keller geholt.«
»Ja, habe ich gemerkt. Wofür brauchst du sie?«
»Oh, natürlich für Willie. Diese kindische Klavierschule ist fast zu leicht für ihn.« Federico winkte ab und blätterte mit gefurchter Stirn durch Bachs Inventionen. »Hast du gedacht, ich würde selbst spielen?«
Alexis gab zu, dass dies genau seine Befürchtung gewesen war. Doch, dass Federico die Noten für seinen Neffen benötigte, schockierte ihn fast noch mehr.
»Mary hat mir ja gesagt, dass du ihm ein bisschen was beibringst, aber du gibst ihm ja anscheinend regelrecht Unterricht. Was denkst du dir eigentlich dabei?«
»Was meinst du?«, Federico sah ihn verständnislos an. »Eric und Mary haben gemeint, dass William sich sehr für Klaviermusik interessiert, vor allem nachdem du ihn mit an die Orgel genommen hast. Ja, ich habe ihm ein paar Sachen beigebracht; ist doch keine große Sache. Du musst doch selbst sehen, dass er Talent hat.«
»Eben, das ist das Problem. Ich finde es nicht gut, wenn man einem Kind so etwas abverlangt und es so früh auf eine Sache fixiert.«
»Er ist fünf! Das ist genau das richtige Alter, um ernsthaft mit dem Unterricht zu beginnen. Ich war damals schon auf einem speziellen Internat. Ich sage ja nicht, dass er im nächsten Jahr schon debütieren soll, aber er sollte gefördert werden. W ir wissen beide, dass jetzt der Grundstein für seine spätere Karriere gelegt werden muss. Er hat Talent, aber Talent alleine ist nicht ausreichend.« Federico war währenddessen zu dem Schreibtisch gegangen, der gegenüber dem Flügel stand und ließ sich dort nieder.
»Du solltest dich reden hören, Fedri, wie eine dieser übereifrigen Mütter, die ihre eigenen unerfüllten Kindheitsträume auf ihre Kinder projizieren.«
»Bitte?« Federico verschränkte die Arme vor der Brust. So gut das mit einem Gips an einer Hand ging.
»Du siehst, dass Willie Talent hat - das will ich auch gar nicht abstreiten – und weil du selbst nicht mehr spielen kannst ... wahrscheinlich selbst nicht mehr...« Alexis kam ins Stocken. Er verhielt sich gerade nicht sehr taktvoll. Dabei sollte er doch Federico ermutigen und den Rücken stärken und was sagte er da für Dinge.
»Ich will einfach nur sagen, dass man ein Kind ein Kind sein lassen sollte«, schloss er lahm.
Federico hatte den Blick abgewandt und starrte angestrengt aus dem Fenster. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann hatte er sich wieder etwas gefangen. Noch immer reagierte er sehr emotional, wenn sie sich über Federicos mögliche Zukunft unterhielten.
»Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber du kannst doch nicht ernsthaft sagen, dass du deine Kindheit genossen hast. Abgesehen davon, dass du Vollwaise warst.« Auch Alexis vermied es nun seinen Partner anzusehen und wischte imaginäre Flusen von den Tasten des Flügels. Federico war immer nur auf seine spätere Karriere und das Klavier fixiert gewesen. Da ihm diese Karriere nun verwehrt blieb auf Grund seiner Verletzung, hatte er auch allen Lebensinhalt und Perspektiven verloren, eben weil er zu sehr auf das Klavier konzentriert gewesen war. Das musste doch auch Federico einsehen.
»Ich habe nichts anderes gekannt. Es war normal jeden Tag stundenlang zu üben. Wie war es bei dir? Wann hattest du das erste Mal Unterricht?«
»Die Privatschule, die ich besucht habe, bot freiwillige Klavierstunden für interessierte Schüler an. So hat es angefangen. Meinen ersten Klavierlehrer habe ich mit sechs bekommen, aber ich hatte dann nur einmal in der Woche Unterricht. So lief das recht lange. Später war es dann meine eigene Entscheidung
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