Homers letzter Satz: Die Simpsons und die Mathematik (German Edition)
erworbene Intelligenz unter Beweis stellen konnte. Die Autoren machten sich an die Arbeit, und einem Mathematiker unter ihnen 32 fiel auf, dass Homers Situation deutliche Parallelen mit einer späten Szene aus Der Zauberer von Oz (1939) aufwies. Dorothy wird in dem Film bei ihrer Wanderung auf dem gelben Steinweg nach Oz begleitet von dem ängstlichen Löwen, der sich mehr Courage wünscht, dem Zinnmann, der ein Herz sucht, und der Vogelscheuche, die mehr Verstand im Kopf will. Angeblich steht die Vogelscheuche für den typischen bodenständigen Farmer aus Kansas, der eine Menge gesunden Menschenverstand, aber kaum formale Bildung besitzt. Als sie den Zauberer am Ende finden, kann er der Vogelscheuche zwar kein Gehirn geben, aber er belohnt sie mit einem Diplom, woraufhin die Vogelscheuche herausplatzt: »Die Summe der Quadratwurzeln zweier beliebiger Seiten eines gleichschenkligen Dreiecks ist gleich der Quadratwurzel der dritten Seite.«
Homer zitiert also nur die Vogelscheuche aus Der Zauberer von Oz. Die Simpson’sche Vermutung ist in Wahrheit also die Vermutung der Vogelscheuche. Die Simpsons -Autoren bedienten sich dieser mathematischen Pseudo-Vermutung, weil Kissingers Brille auf Homer dieselbe Wirkung hat wie das Diplom auf die Vogelscheuche: Beide haben danach sehr viel mehr Vertrauen in ihre intellektuellen Fähigkeiten, mehr aber auch nicht.
Wahrscheinlich fiel nur sehr wenigen Zuschauern auf, dass Homer die Vermutung der Vogelscheuche recycelte. Diese Zuschauer bildeten die Schnittmenge eines Venn-Diagramms mit den Hardcore-Fans von Der Zauberer von Oz in der einen Menge und Mathematikern in der anderen Menge. Zu dieser Schnittmenge gehörten James Yick, Anahita Rafiee und Charles Beasley, Studenten an der Fakultät für Mathematik und Informatik an der Augusta State University in Georgia, die sich mit der Originalszene aus Der Zauberer von Oz eingehend beschäftigt hatten. Sie hinterfragten die These, nach der die Vogelscheuche eigentlich den Satz des Pythagoras zitieren sollte und nur der Schauspieler Ray Bolger, der die Vogelscheuche spielte, einen Fehler machte, der erst auffiel, als es bereits zu spät war. Die drei Mathematiker vertraten jedoch die Auffassung, dass die Drehbuchautoren von Der Zauberer von Oz den Satz des Pythagoras absichtlich verfälscht hatten: »Der Schauspieler spricht die Zeilen sehr schnell. Offensichtlich hat er sie oft geübt. Außerdem sind die Fehler in der Formulierung sehr offensichtlich. Daher glauben wir, dass es sich um vorsätzliche Sabotage handelt … Wollten die Autoren damit etwas über den wahren Wert von Diplomen aussagen? Wollten sie betonen, dass wenige von uns echte Bildung besitzen und wir eigentlich alle ›Vogelscheuchen‹ sind?«
Unabhängig davon, wie die Vermutung der Vogelscheuche entstand oder warum, sie ist unzweifelhaft falsch. Doch sie inspirierte die drei Mathematiker aus Georgia dazu, das Gegenteil der Vermutung der Vogelscheuche zu untersuchen. Diese als Crow Conjecture (von scarecrow = Vogelscheuche) oder Krähen-Vermutung bekannte These besagt:
»Die Summe der Quadratwurzeln zweier beliebiger Seiten eines gleichschenkligen Dreiecks ist niemals gleich der Quadratwurzel der dritten Seite.«
Trifft die Krähen-Vermutung von Yick, Rafiee und Beasley also zu? Dazu muss man nur die beiden Ungleichungen überprüfen. Zunächst forme man Ungleichung (1) ein wenig um:
√a + √a ≠ √b
2√a ≠ √b
4a ≠ b
a ≠ ¼ b
Diese letzte Ungleichung sagt aus, dass die Seiten a niemals nur ein Viertel der Länge der Basis b haben können. Das ist tatsächlich der Fall, weil a größer sein muss als b/2 , weil sich die drei Seiten des Dreiecks andernfalls nicht berühren. Ein kurzer Blick auf das oben dargestellte Dreieck macht das deutlich.
Nachdem bewiesen ist, dass Ungleichung (1) zutrifft, bleibt noch Ungleichung (2):
√a + √b ≠ √a
√b ≠ 0
b ≠ 0
Ungleichung (2) besagt also, dass die Basis eines gleichschenkligen Dreiecks nicht die Länge null haben kann. Das ist natürlich wahr, weil man sonst ein Dreieck mit nur zwei Seiten hätte. Diese beiden Seiten würden übereinander liegen, sodass es sogar ein Dreieck mit nur einer Seite wäre!
Die Krähen-Vermutung erhält damit den Status eines Satzes, weil die Summe der Quadratwurzeln zweier beliebiger Seiten eines gleichschenkligen Dreiecks tatsächlich niemals gleich der Quadratwurzel der dritten Seite sein kann.
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Die Simpson’sche Vermutung erwies sich als
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