Homicide
Schusswaffen passiert das nicht.
Eine Kugel bringt einen Menschen zu Fall, indem sie eines von zwei Dingen bewirkt: Entweder sie hat das Gehirn, den Gehirnstamm oder das Rückenmark getroffen und unmittelbar das zentrale Nervensystem beschädigt. Oder sie hat das kardiovaskuläre System in einem Umfang geschädigt, dass es zu einem massiven Blutverlust kommt, das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird und das Opfer schließlich kollabiert. Im ersten Szenario tritt die Wirkung sofort ein; allerdings trifft ein durchschnittlicher Schütze Gehirn oder Rückenmark seines Opfers höchstens durch Zufall. Im zweiten Szenario dauert es länger, weil der menschliche Körper einfach verdammt viel Blut zu verlieren hat. Selbst bei einer Schusswunde mitten ins Herz wird das Gehirn noch zehn bis fünfzehn Sekunden lang mit Blut versorgt. Die weit verbreitete Annahme, dass ein von einer Kugel getroffener Mensch sofort zusammensackt, ist zwar grundsätzlich zutreffend, aber die Fachwelt hat mittlerweile festgestellt, dass dies nicht aus physiologischen Gründen geschieht, sondern eine erlernte Reaktion ist. Menschen, auf die geschossen wurde, glauben, dass sie sofort zu Boden sinken müssen, und so tun sie es auch tatsächlich. Den Beweis liefern Fälle, in denen es sich anders verhält: Bei Schießereien ist es schon häufig vorgekommen, dass Menschen – oft solche, deren Verstand durch Alkohol und Drogen getrübt war –, obwohl mehrfach und sogar tödlich getroffen, weiter unbeirrt flohen oder für längere Zeit Widerstand leisteten. Ein Beispiel hierfür bietet ein heftiger Schusswechsel zwischen FBI-Agenten und zwei Bankräubern 1986 in Miami, der sich ziemlich in die Länge zog und in dessen Verlauf beide Täter und zwei FBI-Leute umkamen sowie fünf andere Polizisten verletzt wurden. Die Obduktion ergab später, dass einer der Bankräuber bereits in den ersten Minuten eine tödliche Herzverletzung erlitten hatte, es ihm aber gelungen war, sich noch fast fünfzehn Minuten auf den Beinen zu halten, wild um sich zu schießen und zweimal einen Fluchtwagen zu starten, bevor er schließlich zusammenbrach. Menschen mit Kugeln im Leib, und seien es viele, verhalten sich eben nicht immer so, wie man es von ihnen erwartet.
Dasselbe gilt auch für die Projektile selbst. Einmal auf das Innenlebeneines Menschen losgelassen, neigen auch diese kleinen Bleistückchen zum Unvorhersehbaren. Zum einen verformen sich Kugeln häufig. Hohlspitzgeschosse und Wadcutter-Projektile flachen vorn ab, wenn sie auf Gewebe treffen, und jede Munitionsart kann beim Aufprall auf Knochen auseinanderbersten. Drall und Durchschlagskraft einer Kugel vermindern sich schlagartig durch den Widerstand, den ihr der Körper entgegensetzt: Sie giert und schlingert und zerstört dabei Gewebe und Organe. Beim Eintritt in den Körper verliert die Kugel auch ihre ursprüngliche Richtung, prallt von Knochen und Sehnen ab und folgt den durch ihre eigene Verformung veränderten Bahnen. Das gilt für die kleinsten wie für die größten Projektile gleichermaßen. Draußen auf der Straße ernten die großen Kaliber – die 38er, 44er und 45er – immer noch den größten Respekt, aber die bescheidene 22er hat sich einen besonderen Ruf erworben. In Baltimore kann einem jeder kleine Gangster erklären, dass ein 22er-Rundkopfprojektil, sobald es einmal durch die Haut eines Menschen gedrungen ist, herumhüpft wie eine Flipperkugel. Und jeder Rechtsmediziner hat eine Geschichte über eine 22er-Kugel zu erzählen, die links unten in den Rücken eines Menschen eindrang, beide Lungenflügel kupierte, Aorta und Leber durchbohrte und eine oder zwei Brustrippen zerschmetterte, bevor sie rechts oben an der Schulter wieder austrat. Sicher, ein Mann, der von einer 45er-Kugel getroffen wird, hat ein Problem mit einem ordentlichen Stück Blei, das im Begriff ist, eine Schneise durch seinen Körper zu schlagen, aber mit einer guten 22er-Rundkopf muss er sich Sorgen machen, dass das kleine Scheißding in seinem Innern auf ganz große Tour geht.
In den großen Städten arbeiten die Rechtsmediziner mit Fluoroskop oder Röntgengerät, um die kleinen Metallsplitter aufzuspüren, die die seltsamsten Wege nehmen können. Auch in Baltimore steht diese Technologie bereit und wird gelegentlich von einem Schnetzler benutzt, wenn mehrfache Schusswunden oder zerplatzte Kugeln die Suche erschweren. Im Großen und Ganzen aber verweisen die Veteranen in der Penn Street mit Stolz darauf,
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