Hongkong 02 - Noble House Hongkong
anderen mit halbem Ohr. Es war immer das gleiche: die Kleider, die Hitze, die Wasserknappheit, die Kinder und ihre Schulen, Klagen über amahs und andere Bedienstete und darüber, wie teuer alles sei. Dann war die Reihe an ihr, und als sie wieder herauskam, war Fleur Marlowe verschwunden, und Penelope trat auf sie zu. »Ich habe gerade gehört, daß Sie nicht vom Tisch aufstehen wollten. Achten Sie nicht auf Joanna! Sie ist ein Giftzwerg und ist immer einer gewesen.«
»Es war meine Schuld – ich habe mich an eure Bräuche noch nicht gewöhnt. Wie lange läßt man die Herren üblicherweise allein?«
»Etwa eine halbe Stunde. Es gibt keine festen Regeln. Kennen Sie Quillan Gornt schon lange?«
»Ich bin ihm heute abend zum erstenmal begegnet«, antwortete Casey.
»Er … er ist in diesem Haus nicht willkommen«, sagte Penelope.
»Ja, ich weiß. Man hat mir von der Weihnachtsparty erzählt.«
Nach einer kleinen Pause meinte Penelope: »Es ist nicht gut, wenn Fremde in Familienstreitigkeiten hineingezogen werden, nicht wahr?«
»Sie haben recht«, pflichtete Casey ihr bei, »aber Streitigkeiten gibt es in jeder guten Familie. Mr. Bartlett und ich, wir sind hier, um mit einem Ihrer großen Konzerne ein Geschäft anzubahnen. Wir wissen, daß wir hier Außenseiter sind – darum suchen wir einen Partner.«
»Nun, meine Liebe, Sie werden sich sicher entscheiden. Seien Sie geduldig, und seien Sie vorsichtig! Meinst du nicht auch, Kathren?« fragte sie ihre Schwägerin.
»O ja, Penelope!« Kathren betrachtete Casey mit dem gleichen stetigen Blick wie Dunross. »Ich hoffe, Sie wählen das Richtige, Miss Tcholok. Die Leute hier sind alle sehr rachedurstig.«
»Warum?«
»Das liegt vornehmlich daran, daß wir eine so eng verbundene, in wechselseitigen Beziehungen stehende Gesellschaft sind, in der jeder jeden kennt – und fast alle seine Geheimnisse. Ein zweiter Grund ist, daß Haßgefühle hier über Generationen zurückreichen und über Generationen immer wieder frisch genährt werden. Und ein anderer Grund ist schließlich auch, daß die Einsätze so hoch sind: Wenn man hier ein Vermögen verdient, kann man es auch behalten. Hongkong ist eine Durchgangsstation – keiner, auch kein Chinese, kommt her, um zu bleiben; er kommt, um Geld zu machen und wieder fortzugehen. Hongkong ist die ungewöhnlichste Stadt der Erde.«
»Aber die Struans und Dunross’ und Gornts sind seit Generationen hier«, hielt Casey ihr entgegen.
»Ja, aber als Einzelpersonen sind sie nur aus einem Grund gekommen: Geld. Geld ist hier unser Gott. Und sobald man es hat, drückt man sich. So halten es die Europäer, die Amerikaner – und ganz gewiß auch die Chinesen.«
»Kathy, meine Liebe, du übertreibst«, sagte Penelope.
»Mag sein, aber es ist trotzdem die Wahrheit. Ein weiterer Grund ist der, daß wir hier allezeit am Rand von Katastrophen leben: Feuersbrünste, Überschwemmungen, Seuchen, Erdrutsche, Revolten. Die halbe Bevölkerung ist kommunistisch, die andere Hälfte nationalistisch, und sie hassen einander. Und China – China kann uns jederzeit verschlingen. Darum: Lebe für das Heute, zum Teufel mit allem anderen, grapsche, was du kannst, denn wer weiß, was morgen passiert! Hier sind die Menschen rücksichtslos, weil nichts von Dauer ist.«
»Ausgenommen der Peak und die Chinesen«, warf Penelope ein.
»Selbst die Chinesen wollen nur so schnell wie möglich reich werden, um so schnell wie möglich abzuhauen – sie mehr als die anderen. Warten Sie es ab, Miss Tcholok, Sie werden schon sehen! Auch Sie werden Hongkongs Zauber erliegen – oder seiner Verderbtheit – das ist letztlich Ansichtssache. Für Geschäftsleute gibt es auf der ganzen Welt keinen interessanteren Platz. Für einen Mann ist das Leben hier wild und aufregend und wunderbar, aber für uns ist es furchtbar, und wir hassen Hongkong leidenschaftlich, auch wenn wir es nicht zugeben. Wir sind hier alle bedroht. Wir Frauen führen einen aussichtslosen Kampf …« Sie verstummte und zwang sich zu einem müden Lächeln. »Tut mir leid, die Nerven … Ich denke, ich werde jetzt einmal nach Andrew sehen, und wenn er noch bleiben will, verdrücke ich mich, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Ist dir nicht gut, Kathren?«
»Doch, doch, ich bin nur ein wenig müde. Die Kleine ist ein richtiger Fratz, aber nächstes Jahr kommt sie ins Internat.«
»Wie war dein Check-up?«
»In Ordnung.« Kathren lächelte Casey zu. »Wenn Sie Lust haben, rufen Sie mich
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