Hongkong 02 - Noble House Hongkong
erinnerte sich, wie Oma Dunross sie vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen hatte. Das war kurz, nachdem sie Ian geheiratet hatte, der noch auf Krücken ging und sich auf Krankenurlaub befand, die Beine arg verbrannt, aber im Heilen begriffen, im übrigen unverletzt, aber von verzehrender Wut erfüllt, weil man ihn für alle Zeiten mit Startverbot belegt hatte.
»Aber du sollst wissen, Mädelchen«, hatte Oma Dunross kichernd hinzugefügt, in jener Nacht, während die Winterstürme über das Moor pfiffen und sie alle warm und behaglich vor dem großen Feuer saßen, wohlgenährt und in Sicherheit vor den Bomben, »es gab eine Zeit, da war dieser Dunross sechs und schon damals fürchterlich jähzornig, und sein Vater Colin trieb sich wie immer bei den Heiden herum, und so verbrachte dieser Dunross die Ferien vom Internat in Ayr. Ja, und manchmal kam er zu mir, und ich erzählte ihm von seiner Familie, von seinem Großvater und Urgroßvater, aber diesmal ritt ihn wahrhaftig der Teufel. Es war eine Nacht wie heute, und ich schickte ihn weg, den armen kleinen Wicht, hinaus zum Fluchbaum …«
Die alte Dame hatte einen kräftigen Schluck Whisky genommen und kichernd weitererzählt: »Der kleine Teufel ging los, pflanzte sich vor dem Baum auf und stieß die schrecklichsten Flüche aus. Die Tiere im Wald flohen vor seinem Zorn, und dann kam er zurück. ›Na, hast du schön geschimpft?‹ fragte ich ihn, und mit seinem dünnen Stimmchen antwortete er mir: ›Ja, Oma, ich habe ihn schön beschimpft, schöner als je zuvor.‹ ›Na fein‹, sagte ich, ›und hast du jetzt wieder deinen Frieden gefunden?‹ ›Eigentlich nicht, Oma, aber ich bin müde.‹ Und in diesem Augenblick, Mädelchen, gab es einen gewaltigen Krach, das ganze Haus erbebte, und ich dachte schon, das Ende der Welt sei gekommen, aber der kleine Racker lief hinaus, um zu sehen, was geschehen war. Ein Blitz hatte in den Fluchbaum eingeschlagen und ihn in tausend Stücke gerissen. ›Also wirklich, Oma‹, piepste er, als er zurückkam, ›diesmal habe ich mich selbst übertroffen. Kann ich es noch einmal machen?‹«
An dem Tag, als sie abfuhren, hatte Oma Dunross sie zur Seite genommen. »Denk daran, Mädelchen, wenn du eine gute Ehe führen willst, achte darauf, daß Dunross immer einen Fluchbaum in der Nähe hat! Dieser Dunross braucht einen Fluchbaum, auch wenn er es nicht zugibt und er ihn nur hin und wieder besucht.«
So hatten sie also immer einen Fluchbaum, wo immer sie hingingen. Als Dunross nach seiner Wiederherstellung als alliierter Verbindungsoffizier in Tschungking Dienst machte, hatte sie einen Bambus zum Fluchbaum erklärt. Hier in Hongkong war es ein riesiger Jakarandabaum, der den ganzen Garten beherrschte.
»Meinst du nicht, du solltest ihr einen Besuch abstatten?« Für ihn war der Baum immer weiblich, für sie männlich. Jeder sollte einen Fluchbaum haben, dachte Penelope.
»Danke«, antwortete er, »ich bin schon wieder okay.«
»Wie konnte Oma Dunross nach so vielen tragischen Schicksalsschlägen so abgeklärt und weise sein?«
»Ich weiß es nicht. Sie gehörte eben zu einer anderen Generation.«
»Sie fehlt mir.« Oma Dunross war mit fünfundachtzig gestorben. Als Agnes Struan hatte sie ihren Vetter Dirk Dunross geheiratet – Dirk McCloud Dunross, den seine Mutter Winifred, Dirk Struans einzige Tochter, nach ihrem Vater getauft hatte. Dirk Dunross war der vierte Tai-Pan gewesen und mit der Sunset Cloud auf See geblieben. Er war damals dreiundvierzig, und sie einunddreißig. Sie hatte nie wieder geheiratet. Gott hatte ihnen drei Söhne und eine Tochter geschenkt. Zwei Söhne fanden im Ersten Weltkrieg den Tod; der älteste fiel mit einundzwanzig vor Gallipoli an den Dardanellen, der andere wurde mit neunzehn im flandrischen Ypern gasvergiftet. Ihre Tochter Anne hatte Gaston deVille, Jacques’ Vater, geheiratet. Sie kam bei einem Bombenangriff auf London ums Leben, wohin alle deVilles im Zweiten Weltkrieg geflohen waren, mit Ausnahme von Jacques, der in Frankreich im Maquis gegen die Nazis kämpfte. Colin, der letzte ihrer Söhne und Ians Vater, hatte ebenfalls drei Söhne und eine Tochter, Kathren. Zwei Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg. Kathrens erster Mann, Ians Staffelkommandant, starb in der Schlacht um England. »So viele Tote, Opfer der Gewalt«, sagte Penelope traurig.
»Vielleicht war es Joss. Sie haben nur getan, was sie tun mußten, Penn. In dieser Beziehung hat unsere Familiengeschichte nichts
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