Hongkong 02 - Noble House Hongkong
vernachlässigt …«
Es durchrieselte Dunross kalt, als er daran zurückdachte, wie er dieses Testament zum erstenmal gelesen hatte. Warum sind wir so besessen von ihr und Dirk, fragte er sich. Warum können wir unter die Vergangenheit keinen Schlußstrich ziehen? Warum sollten wir uns auch weiterhin den Launen von Gespenstern unterwerfen? Das tue ich ja auch nicht, dachte er. Ich bemühe mich, ihren Maßstäben gerecht zu werden.
Er wendete seinen Blick auf Claudia zurück; würdevoll, sehr verläßlich, aber jetzt zum erstenmal verängstigt saß sie da. Er kannte sie seit seiner Kindheit. Mit fanatischer Loyalität hatte sie dem alten Sir Ross, dann seinem Vater, dann Alastair und jetzt ihm gedient. So wie Philip Tschen.
»Hat Philip angerufen?« fragte er.
»Ja, Tai-Pan. Und Dianne. Viermal.«
»Wer noch?«
»Ein Dutzend Leute oder mehr. Die wichtigeren sind Johnjohn von der Bank, General Jen von Taiwan, Gavallan père aus Paris, Vierfinger Wu, Pug …«
»Vierfinger?« Jäh schoß Hoffnung in Dunross auf. »Wann hat er angerufen?«
Sie sah auf ihre Liste. »Um 2 Uhr 56.«
Ob der alte Seeräuber seine Meinung geändert hat? fragte sich Dunross.
Gestern spät nachmittags war er nach Aberdeen gefahren, um Wus Hilfe zu erbitten, hatte sich aber, wie bei Lando Mata, mit vagen Versprechungen begnügen müssen.
»Hör mal, alter Freund«, hatte er ihn in stockendem Haklo angesprochen, »ich habe dich noch nie um Hilfe gebeten.«
»Eine lange Reihe deiner Tai-Pan-Vorfahren hat eine Menge Gefälligkeiten von meinen Vorfahren erbeten und große Gewinne damit erzielt«, hatte der alte Mann erwidert. »Hilfe? Zwanzig Millionen? Wo soll ein alter armer Fischer soviel Bargeld hernehmen?«
»Aus der Ho-Pak ist gestern mehr als das herausgekommen, alter Freund.«
» Ayeeyah, der Teufel soll die Hurenböcke holen, die falsche Informationen verbreiten! Vielleicht habe ich mein Geld abgezogen, aber es ist alles fort. Ich mußte Waren bezahlen.«
»Ich hoffe, es hat sich dabei nicht um weißes Pulver gehandelt«, gab Dunross grimmig zurück. »Das weiße Pulver ist ein schrecklicher Joss. Gerüchte wollen wissen, daß du dich damit beschäftigst. Als Freund rate ich dir ab. Meine Vorfahren, der alte Grünäugige Teufel und die ›Hexe‹ Struan mit dem bösen Blick und den Drachenzähnen, beide haben alle verflucht, die mit dem weißen Pulver handeln«, sagte er, es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmend, denn er wußte, wie abergläubisch der alte Mann war.
»Ich weiß nichts vom weißen Pulver.« Der alte Mann rang sich ein Lächeln ab, wobei er ein paar schiefe Zähne sehen ließ. »Und ich fürchte auch keine Flüche, nicht einmal von ihnen!«
Dunross wußte, daß er log. »Dann ist es ja gut«, sagte er, »und jetzt hilf mir, einen Kredit zu bekommen! Fünfzig Millionen auf drei Tage, mehr brauche ich nicht!«
»Ich werde meine Freunde fragen, Tai-Pan. Vielleicht können sie helfen, vielleicht können wir alle zusammen helfen. Aber erwarte kein Wasser aus einem leeren Brunnen! Zu welchem Zinssatz?«
»Zu einem hohen, wenn ich es morgen haben kann.«
»Unmöglich, Tai-Pan!«
»Sprich mit Knauser, du bist doch mit ihm befreundet!«
»Knauser Tung ist der einzige Freund, den Hurenbock Knauser Tung hat«, war die verdrießliche Antwort des alten Mannes.
Er griff nach dem Telefon. »Wer hat noch angerufen, Claudia?« fragte er, während er eine Nummer wählte.
»Johnjohn von der Bank, Philip und Dianne …, ach, das wissen Sie ja schon. Oberinspektor Crosse, und dann so ziemlich jeder unserer größeren Aktionäre und jeder Geschäftsführer unserer Tochtergesellschaften, der halbe Jockey-Club, … Travkin, Ihr Trainer … die Liste ist endlos …«
»Augenblick, Claudia!« Und dann auf Haklo in die Sprechmuschel: »Hier ist der Tai-Pan. Ist mein alter Freund da?«
»Selbstverständlich, Mr. Dunross«, antwortete höflich die amerikanische Stimme.
»Danke für Ihren Rückruf! Er kommt gleich, Sir.«
»Mr. Tschoy, Mr. Paul Tschoy?«
»Ja, Sir.«
»Ihr Onkel hat mir von Ihnen erzählt. Willkommen in Hongkong!«
»Ich … hier ist er schon.«
»Danke.« Dunross dachte scharf nach. Warum, fragte er sich, war Paul Tschoy jetzt bei Vierfinger und nicht damit beschäftigt, Gornts Geschäften nachzuspüren? Was wollte Crosse von ihm, und warum hatte Johnjohn angerufen?
»Tai-Pan?«
»Ja, alter Freund. Du wolltest mit mir sprechen?«
»Ja. Können wir heute abend zusammenkommen?«
Dunross
Weitere Kostenlose Bücher