Hongkong 02 - Noble House Hongkong
»Tja, Brian, es könnte von einem lebenden Menschen stammen und nicht von einer Leiche … möglicherweise. Die Quetschung … hier, sehen Sie …« Dr. Meng deutete auf die Verstärkung auf der Rückseite »… würde darauf hinweisen, daß das Opfer zu dieser Zeit am Leben war.«
»Wieso eine Quetschung, Dr. Meng? Wodurch kam sie zustande?«
»Sie könnte entstanden sein, als jemand das Ohr festhielt«, erklärte Dr. Meng vorsichtig, »während es entfernt wurde.«
»Womit wurde es entfernt – Messer, Rasiermesser, Küchenmesser, Hackbeil?«
»Durch ein scharfes Instrument.«
Brian Kwok seufzte. »Könnte das jemanden töten? Der Schock? Jemanden wie John Tschen?«
Dr. Meng legte die Fingerspitzen aneinander. »Möglicherweise. Möglicherweise auch nicht. Weiß man, ob er ein schwaches Herz hatte?«
»Sein Vater sagt nein. Seinen Hausarzt konnte ich nicht erreichen – der Kerl ist auf Urlaub. Aber es gibt keinen Hinweis, daß John nicht immer gesund gewesen wäre.«
»Diese Verstümmelung wird einen gesunden Menschen vermutlich nicht töten, aber er wird sich ein bis zwei Wochen recht unbehaglich fühlen. Sehr unbehaglich sogar.«
»Mein Gott!« stöhnte Kwok. »Können Sie mir denn gar nichts sagen, was mir weiterhelfen würde?«
»Ich bin Gerichtsmediziner, Brian, kein Hellseher.«
»Können Sie mir wenigstens sagen, ob es das Ohr eines Eurasiers oder eines reinen Chinesen ist?«
»Nein, das ist unmöglich. Aber es ist gewiß nicht das Ohr eines Europäers, eines Inders oder eines Negers.« Dr. Meng nahm seine Brille ab und blickte kurzsichtig zu dem hochgewachsenen Polizeioffizier auf. »Das könnte Wellen schlagen im Hause Tschen, heya? «
»Ja. Und im Noble House.« Brian Kwok überlegte kurz. »Was meinen Sie: Dieser Werwolf, dieser Wahnsinnige, würden Sie ihn für einen Chinesen halten?«
»Die Schrift könnte die eines kultivierten Menschen sein, ja – aber auch die eines quai loh, der ein kultivierter Mensch zu sein vorgibt.«
»Für wie wahrscheinlich halten Sie es, daß John Tschen tot ist?«
»Aufgrund der Verstümmelung?«
»Aufgrund der Tatsache, daß der Werwolf ohne vorherige Verhandlungen das Ohr geschickt hat.«
Der kleine Mann lächelte und antwortete trocken: »Haben Sie des alten Sün-tse ›Töte einen, um zehntausend in Schrecken zu versetzen‹ im Sinn? Ich spekuliere nicht mit solchen Inponderabilien.
Wahrscheinlichkeitsrechnungen stelle ich nur auf der Rennbahn und an der Börse an. Welche Chance räumen Sie Tschens Golden Lady am Sonnabend ein?«
»Sie hat große Chancen. Ganz sicher. Aber das gleiche gilt für Struan’s Noble Star oder für Gornts Pilot Fish oder, in noch größerem Maß, für Richard Kwangs Butterscotch Lass. Nur darf die Rennstrecke nicht naß sein. Bei schwerem Boden taugt sie nichts.«
»Oh – sieht es nach Regen aus?«
»Es wäre möglich. Schon ein kleiner Nassauer könnte der Sache ein ganz andres Gesicht geben.«
»Dann dürfte es also bis Sonntag nicht regnen, heya? «
»Es wird in diesem Monat nicht regnen – außer wir haben ganz besonderes Glück.«
»Nun, wenn es regnet, regnet es, und wenn es nicht regnet, macht auch nichts! Der Winter kommt – und dann ist auch Schluß mit dieser verdammten Feuchtigkeit.«
Dr. Meng warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war fünf Uhr fünfunddreißig. »Wollen wir uns noch einen genehmigen, bevor wir heimgehen?«
»Tut mir leid. Ich habe noch einiges zu erledigen. Scheußliche Sache!«
Dr. Meng nickte, und seine Stimme wurde hart. »Alles, was mit Noble House und ihren Marionetten, dem Haus Tschen, zu tun hat, stinkt – nicht wahr?«
Brian Kwok wechselte auf sei yap über, einen der Dialekte, wie er in der Provinz Kwantung und von vielen Chinesen in Hongkong gesprochen wurde. »Na, Bruder, damit willst du wohl sagen, daß alle eitrigen Kapitalistenhunde stinken, und die von Noble House und dem Haus Tschen ganz besonders?« fragte er spöttisch.
»Ach, Bruder, fühlst du es noch nicht tief in deinem Herzen, daß die Winde des Wechsels durch die Welt brausen? Und China unter der erleuchteten Führung des Großen Vorsitzenden Mao …«
»Bleiben Sie mir mit Ihren Bekehrungsversuchen vom Leib«, forderte Brian Kwok eisig und wechselte ins Englische zurück. »Maos Gedanken kommen zum größten Teil aus den Schriften Sün-tses, Konfuzius’, Marx’, Laotses und anderer. Ich weiß, er ist ein Dichter, aber er hat von China gewaltsam Besitz ergriffen, und jetzt gibt es dort
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