Honigkäfer (Käfer-Reihe) (German Edition)
Er klapperte mit dem Schlüssel und kurz darauf schwang das Gitter auf und seine Hände streckten sich ihr entgegen.
"Danke." Sie klammerte sich an seinen Arm, stramm eingewickelt in die Decke.
"Ist das eigentlich ein Ritual zwischen euch?"
Jeanne sah ihn fragend an.
"Na, dass er dich immer nackt hier schlafen lässt..."
Jeanne lächelte dünn. "Ihm scheint es jedenfalls sehr viel Freude zu bereiten."
Lucien schüttelte missbilligend den Kopf. "Ich bringe dich in dein Zimmer. Balthasar ist zum Markt aufgebrochen und wird erst gegen Mittag wieder auftauchen. Vielleicht kannst du dort noch ein wenig ruhen, du siehst ganz verfroren aus."
Sie lächelte. Er war immer so liebenswürdig...wenn er nicht gerade das Feuer im Kamin dazu brachte, sie alle fast umzubringen .
In ihrem Zimmer ließ Jeanne sich samt Wolldecke auf das Bett fallen. Lucien hatte sich höflich zurückgezogen und sie suchte sich eines der Nachthemdes aus dem Schrank heraus. Wenig später zog sie die langen Vorhänge am Fenster zu und schlüpfte unter die weichen Decken. Das hier war so viel besser als das piekende Stroh und die klamme Kälte! Sie schloss die Augen und schlief dann traumlos, bis die Mittagssonne hoch am Himmel stand und sie ein knurrender Magen weckte. Im Nachthemd schlich sie die Treppen hinunter und holte sich ein wenig Wasser für ihre sehr verspätete Morgentoilette. Sie suchte sich ein hellblaues Kleid heraus und wieder war es am Busen ein wenig eng. Prüfend bewegte sie sich vor dem Spiegel. Wenn sie keine allzu ausgefallenen Bewegungen machen würde, könnte sie den Tag überstehen, ohne dass ihr Dekolletee sich ungewollt verselbstständigte. Zum Schluss frisierte sie sich noch die Haare und begab sich dann in die Küche, um sich ein kleines Frühstück zu bereiten.
Auf dem Hof wieherte ein Pferd und dann erklang Balthasars Stimme, die nach Lucien rief. Sie hörte, wie sie ein paar Worte wechselten, zuerst hitzig und laut, dann wurden ihre Stimmen ruhiger. Jeanne vermutete, dass es darum ging, dass Lucien Jeanne einfach wieder aus dem Kerker geholt hatte. Schnell schnappte sie sich ihre Brote und hastete hinauf in ihr Zimmer. Sie wollte auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie den kleinen Streit der Brüder mitbekommen hatte.
Nachdem sie zu Ende gesessen hatte, schüttelte sie ihr Bett auf und faltete ihr Nachthemd auf eines der Kopfkissen.
Jemand stürmte mit langen Schritten die Treppe hinauf. Jeanne blieb wie erstarrt neben ihrem Frisiertisch stehen. Lucien oder Balthasar?
"Honigkäfer!"
Sie atmete aus, das war Luciens Stimme. Er klopfte an die halb geöffnete Tür und blieb dann an der Schwelle stehen. "Darf ich?"
"Hm?" Sie wusste nicht, was er meinte.
"Darf ich?" Er deutete in das Zimmer. Er fragte sie, ob er das Zimmer betreten durfte?
"Natürlich, bitte", antwortete sie etwas überrascht.
Er kam lächelnd näher, nahm dann schwungvoll ihre Hand und drehte sich ein Mal mit ihr. "Komm mit, kleiner Käfer!" Seine Hand zog sie mit sich und sie lachte.
"Wohin gehen wir?"
Lucien machte ein geheimnisvolles Gesicht und sagte gar nichts.
"Lucien!"
"Geduld, kleiner Käfer, Geduld", lachte er. "Neugier steht kleinen Mädchen nicht."
"Ich bin kein kleines Mädchen."
"Für mich schon..." Er küsste ihre Hand im Gehen und wieder mal war sie geblendet, wie charmant er doch war.
Lucien führte sie hinaus auf den Hof und dann um den Stall herum.
"Bruder, gut dich zu sehen." Das war Balthasars Stimme.
Um Himmels Willen, noch ein Bruder? Sie ließ sich von Lucien um die Ecke des Stalls führen und sah als erstes nur Blut. Leuchtend rotes Blut, das einen nackten Oberkörper hinab lief.
"Ach herrjeh, Victor", lachte Lucien und ließ Jeannes Hand aus seiner gleiten. "Du wirst den kleinen Käfer sofort verschrecken."
Jeanne gab ihm wortlos Recht, denn dieser soeben aufgetauchte dritte Bruder bot einen wahrhaft schauerlichen Anblick.
"Honigkäfer, das ist Victor. Er ist der Jüngste."
Noch ein Bruder? Warum hatte ihr wieder niemand von seiner Existenz erzählt? Jeanne musterte den Neuankömmling. Er war ein paar Zentimeter kleiner als seine Brüder, aber immer noch beachtlich hoch gewachsen. Sein von der Sonne gebleichtes hellblondes Haar stand strubblig von seinem Kopf ab und bildete einen interessanten Kontrast zu den wesentlich dunkleren Augenbrauen. Auf seinen Wangen blitzten die hellen Stoppeln eines Dreitagebarts. Um seine kräftigen Schultern hing ein totes Reh, dessen Blut Victors nackten
Weitere Kostenlose Bücher