Honigmilch
Regen- ins Donautal umsiedeln. Das Grundstück in Erlenweiler haben wir meinen Eltern zu verdanken.«
»Du hast nie erwähnt, dass deine Eltern …«, begann Sprudel.
»Sie sind schon tot«, unterbrach ihn Fanni. »Papa starb vor fünf Jahren, Mama vor drei.«
Sie waren ein Stück die Straße hinuntergegangen, und nun blieb Sprudel vor einem blauen Kleinwagen stehen.
»Wie wär’s mit einer Wanderung auf den Lusen?«, fragte er.
»Aber«, wandte Fanni ein, »wir hatten doch geplant, Max und der blonden Heide auf den Zahn zu fühlen.«
»Daraus wird nichts«, erklärte Sprudel. »Die Falkensteiner Schutzhütte ist heute geschlossen. Wir würden niemanden antreffen. Da können wir ebenso gut den Lusen ersteigen. Der Gipfel soll vor Zeiten ein imposanter Felsturm gewesen sein. Im Laufe der Jahrtausende ist er allerdings zu einer riesigen Geröllhalde verfallen, die der heutige Wanderer überwinden muss, um zum Gipfelkreuz zu gelangen.«
»Soweit ich mich erinnere«, erwiderte Fanni, »spaziert der heutige Wanderer bequem und komfortabel auf sorgsam angeordneten Steinplatten übers Geröll zum Gipfel.«
»Der Weg nennt sich Himmelsleiter«, entgegnete Sprudel, »müsste er daher nicht mühselig sein?«
»Nicht für Freigeister«, grinste Fanni.
Sprudel öffnete höflich die Tür zum Beifahrersitz seines Mietwagens. Wenn er nach Niederbayern reiste, um ein paar Tage mit Fanni zu verbringen, dann nahm er meist in Genua die Bahn und mietete nach seiner Ankunft in München einen Wagen.
»Wir fahren nach Waldhäuser. Zwischen Guglöd und Altschönau zweigt eine Straße dorthin ab«, kündigte er an, während er startete.
Fanni nickte. Sie kannte ihn recht gut, den Bayerwald.
»Von Waldhäuser aus«, fuhr Sprudel fort, »wandern wir zum Teufelsloch und von da weiter über die Himmelsleiter zum Lusengipfel.«
Fanni schnallte sich an.
Sie redeten nicht viel während der Fahrt. Erst als der Wagen im Schatten einer Fichte geparkt war und sie mit geschulterten Rucksäcken in den Guldensteig einbogen, fragte Fanni nach den Neuigkeiten, die Sprudel angekündigt hatte.
»Die aufregendste Nachricht lautet, dass am Montag eine weitere Leiche gefunden wurde.«
»Was?«, rief Fanni. »Auf dem Falkenstein?«
»Auf dem Weg dorthin«, antwortete Sprudel. »Im Höllbachgspreng, an einer Stelle, wo der Höllbach ziemlich reißend über die Felsen schäumt. Das Mädchen lag im Wasser. Es deutet allerdings nichts darauf hin, dass sie gewaltsam hineingestoßen wurde.«
»Sie kann doch nicht einfach ertrunken sein«, rief Fanni, »dazu ist der Höllbach nicht tief genug.«
»Das Mädchen ist deshalb ertrunken«, erklärte Sprudel, »weil es hinfiel, mit dem Kopf auf einen Felsbrocken schlug und das Bewusstsein verlor.«
»Sie ist also mitten im Höllbach auf den Steinen herumgeturnt, plötzlich gestürzt und ganz unglücklich aufgeschlagen«, rekapitulierte Fanni. »Warum kommt mir die Szene bloß so bekannt vor?«
»Ich weiß«, sagte Sprudel, »aber bisher ist kein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen ersichtlich. Und wie gesagt, der Tod des Mädchens vom Höllbachgspreng sieht eher nach einem Unfall aus.«
»Ist die Leiche schon identifiziert worden?«, fragte Fanni.
Sprudel nickte. »Das Mädchen heißt Irina Svetla und kommt aus Bergreichenstein. Der Ort liegt in Tschechien, er hat auch einen tschechischen Namen, den ich mir aber nicht merken konnte. Irina hat den Sommer über in der Zwiesler Waldhausalm als Bedienung gearbeitet. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt.«
»Zufälle gibt’s aber auch«, bemerkte Fanni dazu trocken.
»Glaub mir«, sagte Sprudel, »die Polizei sucht intensiv nach Verknüpfungspunkten.«
Er zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: »Dabei hat sich eine interessante Parallele ergeben.«
Fanni blieb stehen, weil der Weg so schmal wurde, dass sie nicht mehr nebeneinander hergehen konnten, und sah ihn gespannt an.
»Auch Irina litt an einer Krankheit«, erklärte Sprudel, »die heutzutage eher selten vorkommt. Irina war mit Syphilis infiziert.«
»Straßenstrich?«, wollte Fanni fragen. Aber bevor sie dazu kam, sagte Sprudel: »Irina war in Tschechien nicht als Prostituierte gemeldet, und den Zeugenaussagen nach ließ sie sich niemals mit Gästen der Waldhausalm ein.«
»Was für Zeugenaussagen?«, erkundigte sich Fanni.
»Hofer hat Irinas Kolleginnen befragt«, antwortete Sprudel. »Er hat die Besitzerin der Waldhausalm vernommen, den Koch, die Putzfrau und einen
Weitere Kostenlose Bücher