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Honigmilch

Honigmilch

Titel: Honigmilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Nationalparkranger, der oft in der Alm einkehrt. Sie alle behaupten, dass Irina den ganzen Sommer über wie eine Nonne gelebt hat.«
    Schaurig, dachte Fanni, während sie Sprudel den schmalen, steilen Pfad hinauffolgte. Es ist, als ob Mikroben aus längst vergangenen Zeiten am Falkenstein ein Comeback feierten. Ihr ging durch den Sinn, was Leni über Kinderlähmung gesagt hatte. Dabei fiel ihr auch die Frage ein, die Leni am Ende ihrer Unterhaltung aufgeworfen hatte. Fanni gab sie an Sprudel weiter:
    »Wie kam der Gerichtsmediziner eigentlich dazu, bei Annabel Scheichenzuber nach Poliomyelitisviren zu fahnden? Sie werden ihm wohl kaum ins Auge gesprungen sein.«
    Darüber musste Sprudel eine Weile nachdenken. Mitten im Teufelsloch fiel ihm die Antwort ein.
    »Heide wird ihn darauf gebracht haben«, sagte er, »die blonde Heide von der Falkenstein-Schutzhütte. Sie hat ausgesagt …« Sprudel unterbrach sich.
    »Weißt du, Fanni«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »Hofer lässt mich die Vernehmungsprotokolle lesen, obwohl das nicht so ganz den Vorschriften entspricht. Aber egal, sagt Hofer, zwei Vögel können halt mehr Körnchen aufpicken als einer.« Er gluckste leise und sprach dann weiter: »Heide hat ausgesagt, dass sich Annabel seit Samstag krank fühlte und am Sonntagmorgen über Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit klagte. Der Pathologe dachte vielleicht an Meningitis durch einen Zeckenbiss und machte die nötigen Tests. Dabei muss er die Polioviren entdeckt haben.«
    Hört sich plausibel an, fand Fanni.
    »Und wie kam der Pathologe bei Irina auf die Diagnose Syphilis?«, fragte sie.
    »Irina befand sich bereits im Sekundärstadium«, erwiderte Sprudel, »in ihren Hautfalten zeigten sich die typischen Papeln. So steht es jedenfalls im Obduktionsbericht. Außerdem war sie schwanger.«
    Sprudel schwieg und machte den ersten Schritt auf der Himmelsleiter.
    Fanni folgte ihm nachdenklich.
    Nach einigen Tritten fragte sie: »War Irina auch so schneewittchenschön wie Annabel?«
    »Schneewittchenschön?«, fragte Sprudel erstaunt.
    »So wie es im Märchen steht«, erklärte ihm Fanni. »Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz.«
    Sprudel schüttelte den Kopf. »Dem Foto in ihrer Akte nach hatte Irina strohblonde Haare und eine gebräunte Gesichtshaut. Hübsch war sie schon, aber mehr auf die rustikale Art. Geierwallischön, wenn es denn ein Vergleich sein muss.«
    »Wenig Ähnlichkeit zwischen den beiden?«
    »Keine Ähnlichkeit.«
     
    Kurze Zeit später standen sie unter dem Gipfelkreuz. Sie schauten auf die Nebelfelder im Tal, aus denen sich Hügel wie Elefantenrücken heraushoben. Am äußersten Rand eines solchen Nebelfeldes konnten sie das alte Böhmerwalddorf Bürstling ausmachen. Die herbstlichen Sonnenstrahlen malten Streifen auf die Steine um sie herum.
    Fanni und Sprudel setzten sich eng zusammen auf einen angewärmten Felsblock und packten ihre Brote aus. Fanni kaute und dachte nach.
    »Hatte Heide noch mehr zu bieten als Annabels Nackensteifigkeit?«, fragte sie nach einer Weile.
    »Eine ganze Menge«, antwortete Sprudel. »Heide weiß über jeden Bescheid, der seinen Fuß in die Schutzhütte setzt, und über die Mädchen, die als Aushilfsbedienungen dort arbeiten, ist sie ganz besonders gut informiert.«
    Er wollte schon weitersprechen, da öffnete Fanni eine gelbe Plastikbox und förderte zwei Stück Schokoladenkuchen zutage. Sprudel bekam glänzende Augen. Es vergingen gut zehn Minuten, bis er sagen konnte:
    »Bevor Annabel am Sonntagmorgen zur Arbeit erschien, hat sie sich mit ihrem Freund gestritten. Das bestätigt auch Max der Wirt, den die beiden im Auto mitgenommen hatten. Es ging wohl wieder einmal darum …«
    »… dass es Severin satthatte, Annabel mit den Hüttengästen quasi teilen zu müssen«, beendete Fanni den Satz.
    Sprudel schluckte, sagte aber nichts.
    Schon ein Jahr zuvor, im Fall Mirza Klein, hatte Fanni von Zeit zu Zeit mit Informationen aufgewartet, an die sie logischerweise gar nicht gelangt sein konnte.
    Sprudel schwieg weiter.
    Willst du ihm nicht verraten, wie du wieder einmal vermeintlich Unmögliches geschafft hast?
    »Was hat denn Severin gemacht, nachdem Annabel aus seinem Auto gestiegen war?«, fragte Fanni stattdessen.
    »Heide sagt«, antwortete Sprudel, »sie hatte zu viel zu tun an diesem Morgen, um darauf zu achten. Die Übernachtungsgäste kamen zum Frühstück in die Wirtsstube, für den Mittagsansturm mussten noch Servietten gefaltet werden,

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