Honigmilch
dreieinhalb Schritte.
Ich werde erst mal abwarten, dachte sie und setzte sich in den Betstuhl. Sicher kommt bald jemand, um zu beten oder um Heilwasser zu holen.
Da kannst du die ganze Nacht warten, Fanni Rot. Na wenigstens wirst du nicht verdursten.
Fanni lehnte sich so bequem wie möglich zurück, schloss die Augen und schwor sich, künftig ihr Handy immer bei sich zu tragen – eingeschaltet.
Sie nickte ein.
Fanni schreckte auf, als die Tür in den Angeln quietschte.
Eine alte Frau trat ein. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden, trug eine Schürze und hielt einen Krug in der Hand. Sie wollte sich eben dem Granitbecken zuwenden, da entdeckte sie Fanni.
Die Frau erstarrte.
Sie glaubt an eine Erscheinung!
»Ich war eingeschlossen«, fiepte Fanni.
Die Alte sog zischend die Luft ein, stieß sie aus und sog sie wieder ein. Nach einer Weile wurde das Zischen leiser.
»Diese Tür«, sagte die alte Frau, »mache ich jeden Morgen eigenhändig fest – damit so etwas nicht passieren kann. Ich habe sie auch heute Morgen festgemacht – ordentlich festgemacht!«
»Vielleicht haben sich Kinder einen Streich mit mir erlaubt«, sagte Fanni.
»Hier am Finkenschlag wohnen nur Leute mit erwachsenen Kindern«, antwortete die Alte streng. »Das jüngste war zweiundzwanzig. Aber Annabel ist letzten Sonntag gestorben.« Sie bekreuzigte sich vor der Marienstatue.
»Annabel Scheichenzuber?«, fragte Fanni. »Die Tote vom Falkenstein?
Die Frau nickte. »Sie kannten das Mädel?«
»Nur vom Hörensagen«, wich Fanni aus.
»Annabel hat dort drüben gewohnt.« Die alte Frau machte zwei Schritte, die sie vor die Kapelle führten, und deutete zu der Stelle, wo das Finkenschlagsträßchen wieder in sich selbst mündete.
Fanni war ihr gefolgt und nahm das gelbe Haus, das dort stand ins Visier. Es schien Fanni weniger gepflegt als die umliegenden Anwesen.
»Das war die Strafe«, murmelte die Alte.
Fanni starrte sie an. »Welche Strafe und wofür?«
»Der Scheichenzuber ist ein notorischer Quertreiber«, antwortete die alte Frau. »Er glaubt an keinen Gott und an keinen Teufel. Von keinem Doktor und von keinem Lehrer lässt er sich was sagen. Über unsere wundertätige Quelle spottet er bloß. Und seine Frau ist keinen Deut besser. Das haben die zwei jetzt davon. Der Herrgott hat ihnen die Tochter genommen.«
Hätte ein Tröpfchen Wunderwasser Annabel vor dem Erschlagenwerden retten können?
War Annabel zugänglicher als ihre Eltern?, wollte Fanni fragen, aber die Alte ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Unser Quellwasser hier ist im ganzen Landkreis für seine Heilkraft bekannt. Manche Leute kommen dafür sogar von weither, füllen es in Flaschen ab und bewahren es für Notfälle auf. Der Kräuterdoktor aus Ludwigsthal bereitet alle seine Tränke damit zu.«
»Doc Haller?«, staunte Fanni.
Die Alte nickte. »Er kommt jeden Abend.« Sie kehrte in die Kapelle zurück, beugte sich über das Granitbecken und ließ ihren Krug volllaufen. Als sie sich wieder aufrichtete, sagte sie: »Es hat gerade sieben Uhr geschlagen. Um diese Zeit schließe ich immer ab. Nachts ist unser Kirchlein versperrt, damit niemand Schindluder treiben kann.«
Sieben Uhr, Fanni!
Fanni eilte zu ihrem Wagen.
Als sie eine Viertelstunde später ins Restaurant des Hotels trat, saß Sprudel wartend an der Theke.
»Ich sollte mir ein Herbarium anlegen«, sagte Sprudel, nachdem sie sich an einen Tisch gesetzt und ihre Abendmahlzeit bestellt hatten. »Doc Haller wird mir bestimmt dabei helfen, wenn ich ihn darum bitte.«
»Ach Sprudel, soviel ich weiß, kannst du nicht mal Löwenzahn von Brennnessel unterscheiden.«
»Na und«, schnaubte Sprudel, »ich will die Pflanzen ja nicht zu Tee verarbeiten, nur sammeln.«
»Für ein Herbarium musst du sie aber katalogisieren, benennen, beschreiben, ihre Merkmale aufzählen.«
»Eben«, antwortete Sprudel, »und dafür geh ich beim Doc in die Lehre, bei den Nationalparkrangern und bei all jenen, die tagtäglich am Falkenstein herumstiefeln und das Revier kennen wie ihre Hosentasche.«
Fanni pickte ein Salatblatt von ihrem Teller auf, dann nickte sie Sprudel zu. »Eigentlich ist die Idee gar nicht schlecht. Selbst wenn du bezüglich der Todesfälle nicht auf die kleinste Spur stößt, es wird dir guttun – das Pflanzensammeln in Wald und Wiese. Und vielleicht begegnest du doch noch dem Wolpertinger, der die Mädchen auf dem Gewissen hat.«
Sprudel wusste sofort, was Fanni meinte, und antwortete: »Begegnet
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