Honigtot (German Edition)
Aber ich muss bleiben. Erinnere dich, was ich dir in K. geschworen habe! Irgendwann werde ich meine Chance bekommen. Aber das geht nur, wenn mein Bruder in Sicherheit ist.
Leb wohl, deine Deborah
Marlene ließ das Blatt sinken. Sie dachte an den Tag im Krakauer Krankenhaus zurück, als Deborah bei ihr aufgetaucht war und geschworen hatte, Brunnmann und Greiff eines Tages zu töten. Und sie hatte darauf geantwortet: „Nein, Greiff gehört mir!“
Das Mädchen war wirklich ein wenig verrückt. Es war das eine, es sich vorzustellen, aber das andere, es zu tun.
Marlene überlegte jetzt, ob sie es sich wirklich zumuten sollte, Deborahs zehnjährigen Bruder zu retten und mit ihm aus der Stadt zu flüchten. Wolfgang kannte sie nicht und vermutlich würde er seine Schwester auch nicht verlassen wollen. Eine Passage aus dem Talmud kam ihr jäh in den Sinn. Ihre Großmutter mütterlicherseits hatte ihr in Krakau oft daraus vorgelesen: „Wer nur einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“ Was sie wiederum sofort an Jakob erinnerte. Er hatte oft zu ihr gesagt: „Bevor du die Welt retten kannst, Anna, solltest du erst lernen, wie.“ Und dann hatte er ihr gezeigt, wie man einen Sprengsatz baut oder ein Funkradio bedient.
Sie dachte in letzter Zeit oft an Jakob und führte mit ihm Zwiegespräche. Dabei hatte sie mehr und mehr Frieden mit ihren inneren Dämonen geschlossen. Die Bilder des gefolterten Jakob wurden zunehmend durch die glücklichen Bilder ihrer beginnenden Liebe verdrängt damals, im Frühjahr 1939, vor dem großen Krieg. Jakob war tot, aber ihr war in Krakau ein zweites Leben geschenkt worden. Sie würde das Beste daraus machen. Ja, sie würde Wolfgang retten und ihn nach Brandenburg bringen, wo ihre Großmutter bei Verwandten Unterschlupf gefunden hatte. Sie würden sich um den Jungen kümmern und ihn sicher bei sich verstecken.
Ihr eigener Weg würde nicht zurück nach Krakau führen, wo man ihr Gesicht zu sehr kannte, sondern nach Frankreich, um sich dem dortigen Widerstand anzuschließen. Diesen Entschluss verdankte sie Halina Szyma ń ska, Widerstandskämpferin und Frau des letzten polnischen Militärattachés in Berlin.
Der Chef der deutschen Abwehr, Admiral Canaris, der schon länger gegen die nationalsozialistische Regierung arbeitete, hatte Halina bereits 1939 die Flucht in die Schweiz ermöglicht. Sie war die Verbindungsagentin zwischen Canaris und dem britischen OSS und unterhielt auch gute Kontakte zum französischen Deuxième Réseau. Marlene kannte Halina von früher. Neben sich spürte sie jetzt eine Bewegung. Ottilie wurde unruhig, der Frau wurde die Zeit lang.
Marlene lächelte ihr beruhigend zu. „Deborah bittet mich, zuerst ihren Bruder in Sicherheit zu bringen. Sie will morgen eine der Hausangestellten bestechen, dass sie mit ihm spazieren geht. Sag ihr, dass ich es tun werde. Sie soll Wolfgang entsprechend darauf vorbereiten, damit er keine Angst vor mir hat.“
„Mei, das liebe Kind. Immer denkt sie an ihren Bruder. Morgen ist der dreizehnte. Hoffentlich ist das a gutes Zeichen“, meinte die abergläubische Ottilie.
„Gut, dann ist es beschlossen, ich werde …“ Weiter kam Marlene nicht. Sirenen setzten ein.
„Jessas, Fliegeralarm! Scho wieder! Ich muss hoam.“ Ottilie schnappte sich ihren Korb und stürmte davon.
Marlene suchte den nächsten Luftschutzbunker auf, indem sie einfach dem Strom der Menschen folgte. Ausgerechnet jetzt! Soweit Marlene wusste, lagen die letzten Luftangriffe vier Wochen zurück.
Es war der bisher schlimmste Angriff der Amerikaner. Sie bombardierten die Münchner Innenstadt tagelang fast ununterbrochen. Erst am 20. Juli beruhigte sich die Lage wieder etwas und die Menschen wagten sich langsam aus ihren Löchern heraus, und mit ihnen Marlene.
Die Innenstadt glich einer postapokalyptischen Vision. Ganze Straßenzüge waren verschwunden und die Gerippe von Häusern ragten wie mahnende Finger in den Himmel. Das Haus der Witwe in der Innenstadt, bei der Marlene Quartier bezogen hatte, stand nicht mehr. Marlene trug alle Wertsachen bei sich und hatte nur einen Koffer mit ein paar Kleidern verloren, aber unzählige Menschen waren im Bombenhagel umgekommen und noch mehr hatten kein Dach mehr über dem Kopf.
Marlene kämpfte sich durch die verwüstete Innenstadt. Überall suchten verzweifelte Menschen in den Trümmern nach ihren Angehörigen.
Schließlich stand Marlene vor den traurigen Resten des Prinzregentenplatz 10. Das Haus musste direkt
Weitere Kostenlose Bücher