Honigtot (German Edition)
ihren Schatz verwahrte. Erleichterung und Zuversicht durchfluteten sie, sobald sie die vertrauten Umrisse der Pistole fühlte. Sie hatte sie, zusammen mit der Information über den Aufenthaltsort des Mannes, gegen ihren letzten noch verbliebenen Gegenstand von Wert eingetauscht: den Rubinring ihrer Mutter.
Das beruhigende Gewicht der Pistole hatte sie während ihrer beschwerlichen Reise wie ein Versprechen begleitet: das Versprechen, Rache zu nehmen. Rache für all die Leben, die er zerstört hatte. Rache für ihr Leben. Ihre Demütigung. Ihre Qualen.
Rache für das Leben, das in ihr heranwuchs.
Sie war hier, um ihn zu töten.
Teil 5
Gegenwart
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Felicity und Martha
Kapitel 52
ROM/Italien, Mai 2012
Erschüttert klappte Felicity ihren Laptop zu. Sie hatte den halben Tag und die ganze Nacht gelesen. Ihrer Mutter hatte sie irgendetwas über eine wissenschaftliche Arbeit erzählt.
Aber ihre Mutter war sowieso viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, weiter die letzten Zeitungsschnipsel zu sortieren und zusammenzukleben, als dass sie auf Felicitys Tun geachtet hätte. Nach dem Frühstück teilte sie ihrer Mutter mit, dass sie kurz an die frische Luft ginge, und rief von der Lobby aus Pater Simone an. Sie erreichte ihn nicht sofort und sprach ihm auf die Mailbox. Dann trat sie auf die Via della Conciliazione hinaus. Der Lärm und der morgendliche Verkehr der Großstadt empfingen sie.
Felicity schlenderte die Straße entlang in Richtung Petersplatz. Sie war noch nicht weit gekommen, als ihr Mobiltelefon läutete. Pater Simone war dran. „Buon giorno, Signorina Felicity, da bin ich. Wie geht es Ihnen und Ihrer Mutter?“
„Es geht mir soweit gut, danke. Ich habe ihre Übersetzung der Geschichte meiner Großmutter gelesen und Sie hatten absolut Recht, Pater. Sie ist unglaublich, einfach unfassbar. Und ich bin sehr froh, dass meine Großmutter sie wie einen Roman verfasst hat. Ich weiß nicht, ob ich stark genug gewesen wäre, ihre Worte wie in einem Tagebuch zu lesen. Zwischendurch musste ich mir mehrmals sagen, es ist ein Roman, um überhaupt weiterlesen zu können. Ich fühle mich furchtbar durcheinander, tief betroffen, aber auch irgendwie wütend. Ein wenig fürchte ich mich auch davor, wie meine Mutter das alles aufnehmen wird. Wenn es mich schon so aufwühlt ... Sie ist, wie soll ich sagen … meine Mutter ist nicht sehr stabil.“ Felicity hielt inne, als hätte sie schon zu viel gesagt.
„Ich denke, ich verstehe, was Sie auszudrücken versuchen. Als Seelsorger sind mir verwundete Seelen nicht fremd. Mir ist aufgefallen, dass Ihre Mutter … nun, sie scheint nicht allzu sehr zu mütterlichen Gefühlen zu neigen. Nach allem, was ich über Ihre Großmutter erfahren habe, ist es nicht verwunderlich. Vermutlich ist Ihre Mutter ohne Mutterliebe aufgewachsen. Ein Kind spürt, wenn seine Mutter es nicht liebt. Darum fällt es ihr so schwer, Liebe anzunehmen oder sie weiterzugeben, weil sie selbst als Kind keine erfahren hat. Ich denke, sie hält sich bis heute selbst nicht für würdig, geliebt zu werden, und hat dieses unzulängliche Gefühl an sie weitergegeben. Aber ich fange an zu `priestern´, wie mein Freund, Pater Lukas, sagen würde. Ich habe heute noch zu tun, aber ich komme am frühen Abend zu Ihnen. Wir sprechen gemeinsam mit Ihrer Mutter, Signorina Felicitá. Machen Sie sich bis dahin nicht zu viele Gedanken. Sie werden sehen, das Schicksal meint es gut mit Ihnen. Arrivederci!“
Felicity kehrte zu ihrer Mutter ins Hotel zurück. „Pater Simone hat sich gerade bei mir gemeldet. Er kommt heute am frühen Abend vorbei.“
„Das heißt, er ist mit der Übersetzung fertig?“, fragte ihre Mutter aufgeregt.
„Ja, das heißt es. Aber …“
„Aber was?“
„Er hat mich vorgewarnt, dass es eine sehr traurige Geschichte zu sein scheint. Er hat gesagt, wir sollen uns auf einiges gefasst machen.“ Felicity überlegte, ob sie noch eine weitere Andeutung machen sollte, sah aber davon ab.
„Ehrlich, Felicity“, ihre Mutter riss ein weiteres Stück Klebeband ab, um zwei Papierstücke zusammenzufügen, „bei deiner Großmutter bin ich inzwischen auf alles gefasst. Ich glaube, ihr Leben war eine einzige Lüge. Inzwischen frage ich mich sogar, ob ich überhaupt ihre Tochter bin. Sie hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich es wäre. Sie war so rastlos und unbeständig und fast nie zuhause. Wenn, dann wollte sie sofort wieder los. Sie führte lieber dieses
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