Honigtot (German Edition)
hinaus hatte Marlene sie wissen lassen, dass die Spur von Obersturmbannführer Albrecht Brunnmann nach Italien führte. Mehr hatte sie ihr aber nicht verraten wollen. Im Gegenteil, sie hatte Deborah zu überzeugen versucht, dass sie von ihrem verrückten Racheplan absehen sollte. Albrecht Brunnmann würde seine gerechte Strafe erhalten. Marlene hatte inzwischen ein Gerücht vernommen, dass die Amerikaner planten, ein Kriegsgericht in Nürnberg abzuhalten, bei dem alle Nazigrößen der Welt zur Schau gestellt werden sollten. Die Demütigung, als Verbrecher behandelt zu werden, würde für Brunnmann mehr Strafe sein als ein schneller Tod, argumentierte sie.
Umsonst. Deborah hatte sich nicht von ihrem Vorhaben abhalten lassen. Außerdem war sie davon überzeugt, dass Marlene Greiff getötet hatte! Albrecht hatte diese Vermutung kurz nach dessen Tod ihr gegenüber geäußert. Deborah konfrontierte ihre Freundin mit diesem Wissen, aber Marlene hatte es nicht zugeben wollen, lediglich ein kaum wahrnehmbares Lächeln war über ihr Gesicht gehuscht. Es hatte Deborah wütend gemacht, dass Marlene ihre Rache bekommen haben sollte, aber sie daran hindern wollte, dass sich die ihre erfüllte. Die beiden Freundinnen hatten sich im Streit getrennt. Am nächsten Morgen war Deborah fort.
Der Strom der Menschen bewegte sich durch die Gassen von Trastevere, dem Teil von Rom, dem der Fluss Tevere, Tiber, seinen Namen gegeben hatte. Die junge Frau ließ sich mit ihm treiben. Manche der Gestalten hasteten geschäftig und drängelnd an ihr vorüber, froh, die Bürde des Krieges bereits abgestreift zu haben. Andere wiederum schleppten sich dahin, Neuankömmlinge wie sie selbst, mager und mit bleichem Gesicht, gezeichnet durch Entbehrung und Angst vor dem Ungewissen.
Die junge Frau kannte den Weg. Zielstrebig setzte sie einen Fuß vor den andern, wie sie es seit fast drei Monaten Tag für Tag, und Stunde um Stunde getan hatte. Vielleicht nicht mehr so genau und sicher wie am Beginn ihrer Reise. Ihre Füße schmerzten, sie hatte einen ihrer Schuhe verloren, oder vielmehr, er war ihr vom Fuß abgefallen, nachdem er sich nach und nach aufgelöst hatte.
Keine der abgehärmten Gestalten interessierte sich für sie, in diesen geschäftigen Tagen der Wiedergeburt fand jedermann nur Platz für sich selbst – in seinen Zukunftsplänen und in seinem Herzen.
Wie viele andere auch hielt die junge Frau ihren Blick auf das Kopfsteinpflaster gesenkt, das einst von den Sklaven eines anderen, lange vergangenen Reiches gelegt worden war.
Der überwundene Krieg hatte, wie jeder Krieg, von vorangegangenen Zivilisationen in absurder Analogie ausgefochten, die Wünsche der Überlebenden auf die elementarsten Bedürfnisse menschlichen Seins reduziert: Ein Dach über dem Kopf, die nächste warme Mahlzeit und Arbeit, um sich beides verdienen zu können.
Der eigene Horizont war auf sich selbst eingestellt, die Aufmerksamkeit auf die eigene Achse gerichtet. Erst mit der allmählichen Entfernung von den traumatischen Ereignissen würden die Wünsche der Menschen wieder wachsen.
Es würde eine Weile dauern, bis die alten Verhaltensmuster zu neuem Leben erwachten, bis hinter jedem erfüllten Wunsch ein noch größerer unerfüllter Wunsch wartete.
Die junge Frau war am Ende ihrer Reise angelangt, in der Via della Conciliazione. Sie verschmolz mit der Schar der anderen, die sich mit dem näherkommenden Ziel vornehmlich in Pilger und Klerus aufgelöst hatte.
Beide Gruppen repräsentierten den üblichen Kriegsnachlass und ihr persönliches Schicksal: Von ausgemergelt und abgerissen bis hin zu wohlgenährt und gut gewandet war alles vertreten.
Mit fiebrig glänzenden Augen starrte die Frau auf die Piazza San Pietro. Sie nahm die den Platz umgebende, beeindruckende Säulenallee nicht wahr, ebenso wenig wie den Petersdom, der sich im Licht der späten Nachmittagssonne mit seiner gewaltigen Kuppel dem fahlen Himmel entgegenwölbte.
All ihre Aufmerksamkeit galt den meterhohen Mauern des Vatikanstaates. Dort hatte er Unterschlupf gefunden, der Mann, der Anlass und Ziel ihrer Reise gewesen war, der Mann, der ihr alles genommen hatte: ihre Familie, ihre Liebe, ihre Würde. Der Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trug. Wie sie dieses Kind hasste. Das Kind eines Massenmörders. Sein Kind. Nicht ihres.
Wie unzählige Male zuvor fuhr ihre schmale Hand unter den fadenscheinigen Mantel, ertasteten ihre mageren Finger die Stelle unter ihrer Brust, an welcher sie
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