Honigtot (German Edition)
Professor, der bisher mit dem Apparat am Ohr in seinem Arbeitszimmer umhergelaufen war, sank nun auf seinen Bürosessel zurück. Plötzlich fühlte er die Last seiner Jahre. Deborah hatte also die ganze Zeit über gelebt? „Wie sind Sie auf mich gekommen?“, fragte er matt.
„Durch Ihre Nichte Martha Benedict und deren Tochter Felicity. Soweit ich das verstanden habe, Professor Berchinger, sind Sie der einzige noch lebende Verwandte Ihrer Nichte.“ Und dann erklärte ihm Pater Simone den Grund seines Anrufes.
Kapitel 54
ROM/Italien
Gegen halb acht Uhr abends klopfte es an ihrer Tür.
„Das wird Pater Simone sein.“ Martha öffnete.
Pater Simone lächelte sie breit an. „Buona sera, Signora Benedict. Da sind wir.“
„Kommen Sie herein, Pater.“ Martha wunderte sich etwas über das `wir´.
Simone trat ein und sagte: „Ich habe Ihnen jemanden mitgebracht.“ Er wandte sich halb zur Tür.
Durch Pater Simones körperliche Fülle hatte Martha zunächst den kleinen, älteren Herrn hinter ihm nicht gesehen. Er trat nun auf sie zu, wobei ihr auffiel, dass er etwas zu hinken schien. Er lächelte sie zaghaft an. „Darf ich vorstellen?“, übernahm wieder Pater Simone, „Das ist Professor Berchinger.“ Er legte eine Kunstpause ein und ergänzte dann: „Ihr Onkel Wolfgang.“
„Onkel? Ich habe einen Onkel? Aber Mutter hat mir nie erzählt, dass sie einen Bruder hat!“ Verblüfft starrte Martha den weißhaarigen Herrn an. Ihre Unterlippe zitterte.
Felicity trat neben sie und streckte dem Professor ihre Hand entgegen. „Guten Abend, ich bin Felicity Benedict. Verzeihen Sie meiner Mutter. Sie ist momentan etwas durcheinander. Wenn Sie Mutters Onkel sind, dann bin ich Ihre Großnichte.“
„Freut mich außerordentlich, sie beide kennenzulernen.“ Er schüttelte Felicity die Hand und mochte sie gar nicht mehr loslassen. Der Professor musterte Felicity auf eine Weise, als traute er seinen Augen nicht. Alte Erinnerungen stiegen ihn ihm auf, vergraben vor längst vergangenen Zeiten und für einen Moment erschien es ihm, als stünde sie noch einmal vor ihm, keinen Tag älter als an jenem Nachmittag, an dem sie ihn für immer verlassen hatte. Deborah, seine große, seine verlorene Schwester.
Felicity sah ihr zum Verwechseln ähnlich, älter als Deborah zu jener Zeit und weniger fragil, aber sie hätten beinahe Zwillinge sein können. Seine Augen wurden feucht. Seit dem Anruf von Pater Simone war er gefangen gewesen zwischen Freude und Furcht: Freude, die Nachkommen seiner Schwester zu finden und endlich etwas über ihr Schicksal zu erfahren, und Furcht, eine Enttäuschung zu erleben, von der er nicht absehen konnte, wie er sie verkraften würde. Immer wieder hatte ihn eine plötzliche Angst überkommen, Pater Simone könnte sich geirrt haben. Nach dessen Anruf hatte er das erste Flugzeug nach Rom genommen. Und was er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, hier war sie, seine Familie!
Felicity rührte, wie bewegt der Professor war. Da es im Hotelzimmer für vier Personen keine Sitzgelegenheit gab, schlug Pater Simone vor, in die Trattoria da Gino zu gehen. Er hätte schon mit dem Wirt gesprochen. Gino stelle ihnen ein Nebenzimmer zur Verfügung, wo sie auch gleich „einen Happen“ essen konnten.
Gesagt, getan. Bis spät in die Nacht saß die neu vereinte Familie zusammen. Pater Simone überreichte Felicitys Mutter die Übersetzung der Aufzeichnungen und umriss für sie kurz den Inhalt. Er hatte inzwischen auch weitere Nachforschungen über Raffael Valeriani angestellt, den Mann, der für kurze Zeit ihr Stiefvater gewesen und gestorben war, als sie gerade erst vierzehn Jahre alt war.
„Ihr Stiefvater war ein junger Priester, der Ihrer Mutter Deborah in Rom nach dem Krieg begegnet ist. Ihre Mutter hat Furchtbares erlebt. Ihr gesamtes Leben war von Albrecht Brunnmann zerstört worden. Als Elisabeth Malpran-Berchinger starb, hat dieser Brunnmann ihre siebzehnjährige Tochter Deborah verführt. Das können Sie alles in der Übersetzung nachlesen, Signora Benedict“, sagte er zu Martha. „Ihre Mutter kam damals im Oktober 1945 nach Rom, weil sie erfahren hatte, dass Albrecht Brunnmann in den letzten Kriegstagen die Flucht hierher gelang. Es gab in Rom einen Bischof, Alois Hudal, der es mithilfe einer Organisation Nazigrößen ermöglichte, nach Argentinien zu fliehen. Die Route wurde später als „Rattenlinie“ bekannt. Wahr ist, dass Ihre Mutter mit der festen Absicht hierherkam,
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