Honky Tonk Pirates - Es kann nur einen geben - Band 4
glaubte zu spüren, wie er der Strömung erlag, wie er begann, wieder flussabwärts zu treiben, doch nach zehn oder zwölf verzweifelten Schreien schrie er doch wieder: »Jaaaa! Jaaaa! Verdammt noch mal: Jaaaa!«
Die Kraft kam zurück. Woher, das wusste er nicht. Doch sie war wieder da und er wurde schneller. »Ich komme,Will, hörst du, ich hole dich ein!«, schrie der sonst so wortkarge Nat und die Worte verfehlten nicht ihren Zweck.
Will schaute sich um und das verbissene Gesicht seines Freundes ließ ihn plötzlich wieder die Blasen spüren. Nein, das waren schon längst keine Blasen mehr. Die Innenfläche seiner Hände war einfach nur wund. Blutig und wund und ihm wurde kurz schwindelig, als er den Schaft seines Paddels wieder umfasste.
»Ich hole dich ein!«, hörte er Nat hinter sich rufen.
Und dann hörte er sich: »Du quasselst zu viel!«, rief er und lachte. Er lachte die Schmerzen aus sich heraus. »Wirst du immer zur Tratschtante, wenn du verlierst?«
Will pfiff auf seine wunden Hände und paddelte los. Er schoss mit seinem Kanu über die Wellen. Er sah die Wolke aus Wasservögeln, die kreischend um ihn herumstob, doch er hörte nur seinen Herzschlag und seinen rasselnden Atem und der wurde jetzt laut. Er wurde zum Donnern. Das war überall. Es machte Will Angst und als er den Blick hob, als er sich zwischen
drei Paddelstößen zweimal die Tränen und den Schweiß aus den Augen gewischt hatte, sah er den Wasserfall.
Siebzig Meter stürzte der Fluss vor ihm aus dem Himmel herab und versperrte den Weg. Will hörte das Donnern, das ihn umgab und er sah durch den Sprühregen des zornigen Wassers, wie Nat auf das Ufer zuhielt.
»Wer zuerst oben ist, hat gewonnen«, schrie er Will zu und der schrie zurück.
»Uaaaah!«, schrie er nur. Anders konnte er sich nicht mehr mitteilen. Dann jagte er hinter seinem Freund her, erreichte das Ufer drei Bootslängen hinter ihm, sprang in den Wald und stürmte den felsigen Abhang zum Gipfel des Wasserfalls hinauf.
Nat war nicht schlecht. Er kletterte geschickt und umsichtig über ihm in der Felswand, doch Will war durch Aweikus Schule gegangen. Er hatte gelernt, den richtigen Aufstieg zu fühlen und zu riechen und wenn ihn seine Spontanität und Unbedachtheit auch sehr oft in Schwierigkeiten brachte, hier war sie sein Vorteil. Will holte auf und als er das Ende des Aufstiegs erreichte, rannte er neben Nat zum Fluss und warf sich mit ihm zusammen in das seichte Becken, in dem sich das Wasser sammelte, bevor es danach in die Tiefe stürzte.
Will fühlte die Frische des Wassers auf seiner sonnenverbrannten Haut. Er kniete sich hin und schaufelte sich, als wäre er tagelang durch die Wüste gefahren, mit beiden Händen das Nass in den Mund. Nat tat dasselbe, dann fielen sie um, sie rekelten sich in dem von Bäumen überdachten natürlichen Becken und sahen sich zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch am Morgen an.
Nat musterte Will und verzog das Gesicht zu einem anerkennenden
Grinsen. »Du bist wirklich gut, Kleiner«, foppte er Will, denn er war mindestens ein Jahr älter als der Pirat und das war viel im Alter von sechzehneinhalb. »Du bist viel besser, als ich dachte.«
Und Will, der jetzt rot wurde, foppte zurück: »Und du redest zu viel. Hab ich dir das nicht schon einmal gesagt?«
»Stimmt«, lachte Nat. »Doch falls du es noch einmal sagen solltest, erzähle ich dir alles.Von der Geburt meiner Uroma auf dem Dach einer Hütte irgendwo drunten in Afrika bis hin zu den Hühneraugen, die mein Großcousin väterlicherseits dritten Grades auf der Nase bekommt, wenn er die Wahrheit sagt.«
Da musste Will lachen. Er lachte nicht nur die Anstrengung der letzten drei Tage aus sich heraus. Nein, er befreite sich auch von der Anspannung der letzten Wochen und Monate, nachdem Hannah und er gegen den Willen ihrer Freunde zum Ende der Welt gefahren waren. Nachdem der Ring der Witwe Chen ihre Freundschaft und ihre Gemeinschaft zerrissen hatte und nachdem Honky Tonk Hannah zur Verräterin geworden war.
Oh, ist es hier schön!, dachte der Junge und strahlte Nat an.
Der Kerl hatte recht. Es war richtig gewesen, ihn durch das Kanurennen zum Schweigen zu bringen: damit er nicht ständig von früher erzählt. Ja-mahn, wozu brauchte Will dieses alte Leben? All diesen Ballast aus dunkler Vergangenheit und falschen, verlogenen Freunden? Warum lebte er nicht einfach hier? Nur hier und jetzt zusammen mit Nat in dieser so unverdorbenen und ehrlichen Welt?
Da entdeckte er die Flasche,
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