Honor Harrington 11. Wie Phoenix aus der Asche
Erinnerung an das erste Mal war dazu einfach zu deutlich, und sie hatte einer möglichen Enttäuschung vorgebeugt, indem sie sich verbot, zu viel in seine Versicherungen hineinzuinterpretieren. Doch er hatte Recht gehabt, und nun fühlte sie sich schuldig, weil sie an ihm gezweifelt hatte. Sogar das neue Auge funktionierte reibungslos, auch wenn Honor noch immer leichte visuelle Desorientierungen erfuhr. Die Programmierer hatten die Software nicht optimal eingestellt, und die Selbstkorrekturmechanismen waren noch immer damit beschäftigt, die richtige Bildhelligkeit und den richtigen Kontrast zu finden. Zudem mussten sie noch die Sehschärfe des künstlichen Organs auf die Schärfe des natürlichen Auges abstimmen. Ihre Sicht jedenfalls wurde immer besser, und während Honor die neuen Sonderfunktionen des Auges noch nicht gemeistert hatte, waren die bekannten auf die gleichen Muskelbewegungen programmiert wie in ihrem alten künstlichen Auge. Vorerst hatte sie die neuen Funktionen abgeschaltet, um sich erst einmal wieder an die alten zu gewöhnen und auf die Beherrschung ihres Gesichts konzentrieren zu können. Sie würde noch Zeit genug haben, die neuen Funktionen zuzuschalten … aber im Moment konnte sie keine Ablenkung brauchen, denn man hatte ihr auch den neuen Arm schon angesetzt.
Ihr Schmunzeln wurde zu einem breiten Grinsen, als sie an das neue Glied dachte. Sie war selbstverständlich froh, dass sie endlich lernen konnte, damit umzugehen. Das sagte sie sich fast stündlich – jedes Mal, wenn das unhandliche Ding herumschwang und gegen den Türrahmen schlug, den sie gerade durchschritt … oder plötzlich zur Seite zuckte, weil es auf einen Nervenbefehl reagierte, den sie ihm nie hatte geben wollen. Ihre schreckliche Ungeschicklichkeit (dabei war es gar nicht ihre Ungeschicklichkeit) belastete Honor doppelt, denn sie zeigte ihr eines überdeutlich: Die völlige Körperbeherrschung, die sie in jahrzehntelangem Kampfsporttraining erlangt hatte, war nun dahin. Wenigstens enthielt die Software des Armes programmierbare Eingriffsschaltungen. Nicht nur während der Therapie- und Übungsstunden, sondern die meiste Zeit über ließ Honor sie deaktiviert. Sie musste sich erst an den Umstand gewöhnen, dass der Arm wieder da war, und die Kontrolle über seine unbeabsichtigten Zuckungen und Bewegungen erlangen. Die Software gestattete ihr allerdings, den Arm ganz abzuschalten und ordentlich in einer Schlinge zu tragen, wenn sie in die Öffentlichkeit ging, sodass er sie weder störte noch nichts ahnende Passanten gefährden konnte. Die nächste Stufe beschränkte den Arm auf eine Reihe vordefinierter Bewegungen, die Honor auf bewusster Ebene gemeistert hatte und die von der eingebauten Künstlichen Intelligenz erkannt wurden. Dieses grundlegende Paket war flexibler als sie geglaubt hatte, und erlaubte ihr mehrere Unterstufen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie dieses Bewegungspaket besitzen wollte. Nein, treffender formuliert: Sie war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, es zu besitzen, ganz gleich, wie bequem es auf kurze Sicht auch sein mochte. Im Grunde fürchtete sie, sie könnte versucht sein, die vordefinierten Bewegungen im Übermaß zu benutzen. In der Tat hatte sie sich dabei schon ertappt, und es vor sich selbst damit zu rechtfertigen versucht, dass sie so viel zu tun habe; sie müsse schließlich den Arm unter Kontrolle halten, während sie sich darum kümmerte. Wenigstens hatte sie sich ertappt, und sie bemühte sich sehr, dieser besonderen Versuchung aus dem Weg zu gehen. Eigentlich fürchtete sie nämlich, dass sie sich auf lange Sicht mit einem weniger umfangreichen Grad an Kontrolle begnügen könnte. Wenn sie sich auf die Software verließe, würde sie jedoch eine Geschicklichkeit und Bewegungskoordination erlangen, die allenfalls »ausreichend« wären.
An diesem Abend scheute sie sich nicht, die Eingriffssteuerungen zu benutzen. Wie hätte es auch ausgesehen, wenn die Gastgeberin mit dem linken Arm durch Gläser und Porzellan gefegt wäre! Auf diese Weise hätte sie kaum zu dem Bild der gelassenen und tüchtigen Vorgesetzten beigetragen, das sie vermitteln wollte. In Anbetracht der Gesellschaft, die sie zu ihrem Dinner geladen hatte, war es besonders wichtig, den Eindruck zu vertiefen, sie sei jemand, die genau wusste, was sie tat – und wovon sie sprach.
Sie trank von ihrem Dessert-Kakao und musterte die Abendgäste.
Andrea Jaruwalski, deren markantes Gesicht keine gepeinigte Maske
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