Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
Sanitäter nicht verdenken, daß er sich aus seinen Problemen heraushalten wollte. Tatsumi hatte ihm gerade das Leben gerettet, mehr konnte er wohl kaum verlangen. Aber wenn Tatsumi bei seiner Version blieb, dann stand Aussage gegen Aussage, Aubreys Wort gegen Steilmans. In Anbetracht der kleinen Unterschiede ihrer Dienstakten konnte das ausreichen – mußte es aber nicht. Und wenn Tatsumi recht hatte und ein »Haufen« Steilman den Rücken deckte, dann reichte es vielleicht nicht, den Energietechniker in Arrest zu bringen. Steilman hatte genau gewußt, wo er Aubrey auflauern mußte, und das wies darauf hin, daß er in der Tat Helfer besaß … Jeder in Aubreys Wache wußte von seinen Erkundungszügen, und er hatte nicht gerade versucht, seine Pläne für diesen Abend geheimzuhalten. Steilman gehörte aber nicht zu seiner Wache. Deshalb konnte er nur von Aubreys Vorhaben erfahren haben, weil jemand ihm Bericht erstattete. Aubrey konnte sich nicht vorstellen, warum sich jemand freiwillig mit einem Unmenschen wie Steilman einlassen sollte, aber das war unerheblich. Wichtig war allein der Umstand, daß es so sein mußte – und daß Aubrey nicht die leiseste Idee hatte, um wen es sich dabei handeln konnte.
Er legte sich beide Hände vors Gesicht, um die Blutung zu stillen. In ihm flackerte die Panik auf. Er mußte eine Antwort finden, aber wie? Natürlich konnte er unter vier Augen mit der Bosun sprechen, aber Sally MacBride machte keine halben Sachen. Wenn sie ihm glaubte, dann würde sie handeln, aber ohne Beweis konnte sie momentan lediglich eins tun, nämlich Steilman zu verwarnen. Aber verwarnt hatte sie ihn bereits. Ganz offensichtlich glaubte der Energietechniker trotz dieser Warnung, mit seiner »Rache« an Aubrey durchzukommen, und für Aubrey bestand wenig Grund zu der Hoffnung, daß Steilman es sich nun anders überlegen könnte. Vermutlich irrte sich Steilman mit seiner Einschätzung, womit er durchkommen könnte, aber was auch immer die Bosun später mit ihm anstellte, wäre Aubrey nur ein geringer Trost, wenn er sich dazu erst von Steilman lazarettreif schlagen – oder etwas Schlimmeres antun lassen mußte.
»Da wären wir«, seufzte Tatsumi erleichtert, als der Lift anhielt und die Türen zischend beiseite fuhren. Auf dem kurzen Gangstück führte und stützte er Aubrey, der die Augen geschlossen hatte. Er brauchte Hilfe. Er mußte mit jemandem sprechen, der genug Erfahrung besaß und ihm sagen konnte, was er tun sollte. Aber er kannte niemand mit solcher Erfahrung!
»Mein Gott!« rief jemand. »Was ist denn mit dem passiert?«
»Weiß ich nicht genau«, antwortete Tatsumi. »Ich fand ihn auf dem Gang, Sir.«
»Wie heißt er?«
»Wanderman, Sir«, sagte Tatsumi. »Jedenfalls glaube ich, daß es sein Gesicht sein könnte.«
»Lassen Sie mich mal sehen.« Fremde Hände stützten sanft Aubreys Kopf, und er blinzelte, als ein Surgeon Lieutenant ihm in die Augen blickte. »Was ist passiert, Wanderman?« fragte der Arzt.
Sag’s ihm! rief eine innere Stimme. Sag’s ihm sofort! Aber wenn Aubrey dem Sanitätsoffizier die Wahrheit sagte …
»Ich bin gestürzt«, behauptete er undeutlich.
18
Der Gefechtsalarm riß Warner Caslet aus traumlosem Schlaf. Er rollte sich herum, setzte sich auf und reichte aus purem Reflex heraus nach der Comtaste, bevor er überhaupt die Augen aufgeschlagen hatte. Geisterhaftes Licht flackerte durch die dunkle Kabine, als das Display sich erhellte.
»Kommandant«, meldete er sich mit schlaftrunkener Stimme. »Was gibt’s?«
»Ich glaube, es hat einer angebissen, Skipper.« Die weibliche Stimme gehörte Allison MacMurtree, Caslets I.O. »Ich bin nicht sicher, ob es der ist, hinter dem wir her sind, aber auf jeden Fall folgt uns jemand.«
Caslet rieb sich die Augen. »Nur einer?«
MacMurtree nickte. »Bisher haben wir nur eine einzige Impellersignatur, Skip.« Bürger Kommissar Jourdain stellte sich in den Erfassungsbereich des Aufzeichners und blickte ihr über die Schulter. MacMurtree blickte den Neuankömmling an, aber auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Sorge, obwohl viele Volkskommissare Anreden wie »Skipper« oder »Skip« für beinahe so ›elitär-reaktionär‹ erachtet hätten, als hätte sie es gewagt, jemanden mit ›Sir‹ anzusprechen, der kein Kommissar war.
»Wie weit zurück?«
»Neunzehn Millionen Kilometer, Skip. Etwas über einer Lichtminute. Wir bekommen noch keine aktiven …« Sie unterbrach sich und schaute zur Seite. Caslet hörte schwach
Weitere Kostenlose Bücher