Hoppe
wieder ein Schnippchen zu schlagen, weil sie taub und stumm und blind und lahm sind und die meisten Spuren nicht lesen können. Auch wenn der Fuchs genau weiß, dass die Traube der Ewigkeit immer etwas zu hoch hängt. Aber wen kümmert das? Gebt uns Tiere und Typen, Fell und Kontur, Futter und Pläne, gebt uns alles, was uns NICHT zum Verschwinden bringt. Wozu überhaupt diese Anstrengung, sich ständig zum Verschwinden zu bringen? Wir wissen doch ganz genau, dass wir immer noch ALLE DA sind, und was uns Tag für Tag sichtbar macht: die Wurst, der Fuchs, der Tanzboden unter den Füßen. Warum spricht niemand davon, wonach alle sich sehnen: dass wir nicht nur berührt werden wollen, sondern dass wir uns alle danach sehnen, dass endlich einer vorbeikommt, der uns wirklich anfasst.«
Eine Woche nach dem Hahndorfer Schützenfest (in
Buch F
unter »Hochzeitsreise« vermerkt), fliegen Hoppe und Seppelt von Adelaide über Sydney nach New York. Es ist Felicitas’ erster Flug, »ein Flug, dem sie, die alle Weltmeere bereist hat, niemals seekrank wird, schwindelfrei ist und von der ich bis gestern noch annehmen durfte, man könne sie jederzeit in eine Art Tauchtonne stecken und wie Alexander den Großen auf den Grund aller Meere schicken, ohne ihr auch nur ein Haar zu krümmen«, schreibt Viktor, »in keiner Weise gewachsen war. Ich sehe sie vor mir, wie sie beim Einstieg plötzlich leichenblass wird, aber, wild entschlossen, ihr Schicksal auf sich zu nehmen, indem sie es einfach aus der Hand gibt, die entsetzliche Kapsel besteigt, um in einem Raum zu verschwinden, der, sagte sie, nicht meiner ist, weil man hier oben nicht atmen kann, eine Tatsache, der man nur dadurch begegnet, dass man sich einredet, dass überall, wo zwei oder drei von uns versammelt sind, ganz wie von selbst menschliche Luft sei.
Erst als wir unsere Plätze eingenommen hatten (ich Fenster, sie Gang), erzählte mir Felicitas die ganze Wahrheit: dass sie niemals zuvor geflogen und also gewohnt sei, mit Zeit und auf Schiffen zu reisen, weil ihr Vater, nach einem Flugzeugabsturz in den fünfziger Jahren, für den Rest seines Lebens aufgehört hatte, per Flugzeug zu reisen. Aber sie nahm die Herausforderung an, indem sie (mit schweißnassen Händen) ein Reiseschachspiel aus ihrem Rucksack zog. Bevor wir ankommen, bist du matt, sagte sie. Sie behielt, wie immer, nur zur Hälfte recht. Das Spiel zog sich in die Länge und war auch kurz vor der Landung nicht entschieden, als Felicitas, die eindeutig im Vorteil war (ich hatte meine Dame längst verloren), die Steckfiguren vom Brett nahm und sorgsam verpackte, weil sie die Anweisungen des Kapitäns todernst nahm und den Klapptisch überpünktlich nach oben schob. (Tatsächlich erfolgte die Landung erst zwei Stunden später, in New York schneite es, was die Sicht behinderte und einen Stau im Luftraum zur Folge hatte, den Felicitas später zum Thema ihrer Kurzerzählung
Vorfreude auf Schnee
(
Snow anticipated
) machen sollte, ein innerer Monolog, in dem auf knapp sechs Seiten von nichts anderem die Rede ist als von der entsetzlichen Angst, ›für immer im Himmel steckenzubleiben und nie wieder eine eigene Spur in frisch gefallenem Schnee zu hinterlassen.‹/fh)
Als wir schließlich tatsächlich landeten und sie, noch angeschnallt, sah, dass es draußen wirklich schneite«, schreibt Viktor weiter, »war sie glücklich wie ein Kind, das zum ersten Mal Schnee sieht, dabei war ich es, der ihn zum ersten Mal sah und ziemlich schnell feststellte, dass ich den Winter hasste.« Es dürfte weniger der unbekannte Winter als die merkwürdige Hochzeitsreise (laut Viktors Aufzeichnungen auf nicht mehr als zwei Wochen anberaumt) gewesen sein, die dem australischen Sommerkind Viktor Seppelt die Stimmung verdarb. Nicht nur das Glück im Schnee erweist sich als flüchtig und scheint sich nicht auf das ungleiche Paar übertragen zu haben. Die Reise gestaltet sich insgesamt kompliziert, vor allem deshalb, wie Viktor in seinem Notizheft weiter ausführt, »weil sie an New York nicht das geringste Interesse zeigt. Kaum ein Tag, an dem sie das Zimmer verlässt (Hoppe und Seppelt logieren in Brooklyn in einem billigen Zweibettzimmer mit Blick auf den Containerhafen/fh), ein klassischer Fall von Landgangsangst. Sie zieht es vor, den Schnee von drinnen zu betrachten und zu schreiben, diesmal weit mehr als ein Wochenendlibretto, wie sie behauptet. Wenn ich abends von meinen Ausflügen zurückkomme, sitzt sie, wie ich sie am Morgen
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