Hornblower 07 - Unter wehender Flagge
seines Bruders gekommen. Frankreich erstreckt sich jetzt bis zur Ostsee; Hamburg und Lübeck sind französische Städte wie Livorno und Triest.«
Hornblower gedachte der Karikaturen englischer Zeitungen, in denen Bonaparte so oft mit einem Frosch verglichen wurde, der sich bis zur Größe eines Ochsen aufzublasen versuchte.
»Ich sehe darin ein Moment der Schwäche«, bemerkte Herr de Gracey. »Überdies wird es Krieg mit Russland geben. Schon werden Truppen nach dem Osten verlegt, und die Einzelheiten einer neuen Aushebung kamen am gleichen Tag heraus wie die Proklamierung des Königs von Rom. Es wird nur noch mehr Drückeberger im Lande geben, als ohnehin schon vorhanden sind. Auch möchte ich annehmen, daß Bonaparte bald erkennen wird, wie sehr er seine Kräfte überschätzte, als er zum Angriff gegen das moskowitische Reich antrat.«
»Vielleicht«, murmelte Hornblower. Er hegte keine sehr hohe Meinung von den militärischen Fähigkeiten Russlands.
»Ich habe aber noch Wichtigeres zu berichten«, sagte der alte Franzose. »Endlich hat man ein Bulletin der in Portugal stehenden Armee veröffentlicht. Allerdings wurde es in Almeida ausgegeben.«
Es bedurfte einiger Sekunden, bis Hornblower die Bedeutung dieses Umstandes erfasste, und auch dann ging sie ihm nur allmählich auf.
»Das heißt«, sagte de Gracey wieder, »dass Wellington den Marschall Massena geschlagen hat, daß der Versuch der Eroberung Portugals scheiterte und daß in Spanien alle Dinge wieder in Fluss gerieten. Eine offene Wunde klafft in Bonapartes Flanke. Vielleicht verblutet er daran, doch lässt sich schwer abschätzen, welchen furchtbaren Schaden das arme Frankreich davon erleidet. Aber natürlich können Sie sich ein zutreffenderes Bild der Lage formen, als ich es zu tun vermag, Herr Kapitän. Ich hätte Ihnen meine Ansicht nicht aufdrängen sollen. Immerhin haben Sie vermutlich nicht die Möglichkeit, die moralischen Wirkungen dieser Ereignisse abzuschätzen. Der Reihe nach hat Wellington die Generäle Junot, Victor und Soult geschlagen. Nun hat Massena das gleiche Schicksal erlitten. Ich spreche dem Bestand des Empires keine große Lebensdauer mehr zu. Weltreiche pflegen eines Tages überraschend schnell zusammenzubrechen, und Ihr Wellington wird zu jenen gehören, die dieses Empire einreißen.«
»Ich hoffe ernsthaft, daß Sie recht haben, Herr Graf.« Der alte Aristokrat konnte natürlich nicht ahnen, wie sehr die Erwähnung des Namens Wellington seinen Gast beunruhigen musste. Wie sollte er wissen, daß Hornblower tagaus, tagein von der Erwägung geplagt wurde, ob Wellingtons Schwester Witwe geworden war, ob Lady Barbara Leighton, geborene Wellesley, dem als tot gemeldeten Kapitän z. S. Hornblower jemals einen Gedanken der Teilnahme geschenkt hatte. Die Erfolge ihres Bruders mochten ihr ganzes Denken derartig stark in Anspruch nehmen, daß alle anderen Empfindungen davon verdrängt wurden. Hornblower fürchtete, daß sie inzwischen eine viel zu große Dame geworden war, um ihn überhaupt noch zu beachten.
Der Gedanke an solche Möglichkeit quälte ihn.
In ausgesprochen nüchterner Stimmung begab er sich zu Bett.
Sein Geist beschäftigte sich mit den verschiedensten Problemen, die sich von der Möglichkeit eines Zusammenbruchs des französischen Kaiserreichs bis zu der die Loire hinunterführenden Reise erstreckten, die er unternehmen wollte.
Noch lange nach Mitternacht wachliegend, hörte er, wie sich seine Zimmertür leise öffnete und schloss. Sofort erstarrte er in seiner Lage. Ein leichtes Gefühl des Widerwillens beschlich ihn, als ihm die Heimlichkeiten einfielen, die er unter diesem gastlichen Dach hatte. Äußerst behutsam wurden die Bettvorhänge beiseite gezogen, und die Augen nur spaltweit öffnend, sah er, daß sich eine schattenhafte Gestalt über ihn neigte. Eine weiche Frauenhand strich sanft über seine Wange.
Er konnte sich nicht länger schlafend stellen und tat so, als erwache er jählings.
»Marie ist's, Oratio«, flüsterte die ihm bekannte Stimme.
»Ja...«, sagte Hornblower.
Er wusste nicht, was er sagen und wie er sich verhalten sollte, denn er war sich über seine eigenen Wünsche im unklaren. Vor allem kam ihm die Unvorsichtigkeit zum Bewusstsein, die Marie dadurch beging, daß sie ihn in seinem Zimmer aufsuchte, womit sie sich der Entdeckung aussetzte und alles in Frage stellte. Scheinbar verschlafen, schloss er die Augen, um Zeit zur Überlegung zu gewinnen. Das Streicheln hatte
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