Hotel Mama vorübergehend geschlossen
ein bißchen chaotischer als normal abgelaufen war.
Kurz nach Mitternacht klingelte es an der Haustür. »Wer kann denn das jetzt noch sein?«
»Es gibt wohl kaum eine sinnlosere Frage als diese!« knurrte Tinchen, die neue Kamelhaardecke enger um sich ziehend, »von hier drinnen wirst du sie nämlich kaum beantworten können.«
»Will ich das überhaupt?« Florian hielt die fast leere Weinflasche gegen die Lampe und goß den Rest in sein Glas. »Wahrscheinlich ist das irgendein besoffener Witzbold, der sich auf diese Art den Heimweg verkürzt. Haben wir doch alle mal gemacht.«
»Ja, vor fünfzig Jahren!« Sie gähnte. »Trink endlich aus und laß uns schlafen gehen, der Tag war lang genug. Und der morgige wird bestimmt noch länger!«
»Du meinst heute! Wir haben doch schon morgen.«
»Nein, ich meine morgen, heute haben wir frei. Da kommt niemand. Hoffentlich!« fügte sie hinzu, denn der vergangene Abend hatte sie nicht nur zwei Kristallgläser und ein Brandloch im Teppichboden gekostet, sondern in erster Linie Nerven und Selbstbeherrschung. Frau Antonie war pikiert gewesen, weil sie eine selbstgemachte Cumberlandsoße mitgebracht hatte und erfahren mußte, daß die gar nicht gebraucht wurde, weil es statt Fondue Kartoffelsalat mit Würstchen gab. »Nein, Kind«, hatte sie gesagt, »das hat nun wirklich keinen Stil! Sowas nimmt man zum Picknick mit oder ißt es an einer Imbißbude, aber nicht am Heiligen Abend an einer festlich gedeckten Tafel! Hätte ich das gewußt, wäre ich erst zur Bescherung gekommen!« Dann hatte sie den Tisch gemustert, auf den Tinchen diesmal kein Porzellan, sondern ihr rustikales Keramikgeschirr gestellt hatte. Mißbilligend hatte sie eine der Steakgabeln hochgenommen. »Wo ist denn dein Silber?«
»Bis zur Testamentseröffnung noch bei dir!« hatte Florian geantwortet, worauf Frau Antonie die Lippen zusammengekniffen und sich auf ihren Stammplatz, nämlich in die linke Sofaecke, zurückgezogen hatte. Von dort aus hatte sie immer alles im Blick.
Kurz darauf waren Ulla, Tobias und die Kinder gekommen und mit der üblichen Verspätung auch Karsten. »Frohe Weihnachten alle zusammen und was man sonst noch so sagt«, hatte er in die Runde gewinkt, bevor er Tinchen einen Strauß goldfarbener Chrysanthemen in die Hand gedrückt hatte. »Ja, ich weiß, normalerweise gehören die auf den Friedhof, aber der Laden bei mir um die Ecke hatte bloß noch das hier und Nelken, doch ich glaube mich zu erinnern, daß du die schon überhaupt nicht leiden kannst! Gab's da nicht mal einen frühen Verehrer, den du gleich nach dem ersten Treffen abserviert hast, weil er mit rosa Nelken angetrabt war?«
»Das weißt du noch?« hatte Tinchen gelacht.
»Und ob! Hinterher hast du geheult wie'n Dutzend Sirenen, weil der Jüngling dich nicht mehr die Mathe-Hausaufgaben abschreiben ließ und du plötzlich auf einer Fünf gestanden bist.«
Dann hatte Tinchen zu Tisch gebeten, und Frau Antonie hatte sich auf ein Stück Borkenschokolade gesetzt, das Tim auf dem Stuhl abgelegt hatte. Noch während der provisorischen Reinigung im Bad hatte Tinchen es klirren gehört. Da war das erste Glas kaputtgegangen, weil Tanja ihren Apfelsaft selber hatte eingießen wollen. Das zweite war später auf Tobias' Konto gegangen.
»Seitdem ich ihn nicht mehr an den Geschirrspüler heranlasse, habe ich mein Geschirr wesentlich länger«, hatte Ulla gesagt und die Scherben zusammengefegt – allerdings nicht alle, wie sich nach Verabschiedung der Gäste herausstellte, als Tinchen in eine trat. Barfuß! Jetzt klebte ein dickes Pflaster unter ihrem großen Zeh, extra noch mit einer Lage Mull unterlegt.
Nach dem Essen war es ziemlich laut geworden. Und das nicht nur wegen der Kelly Family, deren CD mit Weihnachtsliedern Tim mitgebracht und darauf bestanden hatte, sie statt Frau Antonies Sängerknaben abzuspielen. »Die sind so langweilig!« Eine Behauptung, der die meisten Anwesenden stillschweigend zugestimmt hatten. Allerdings nur zehn Minuten lang. Dann hatte Florian heimlich den Stecker herausgezogen und seinem Enkel erklärt, daß der CD-Player anscheinend ein bißchen kaputtgegangen sei und man aufs Radio ausweichen müsse. »Is nich so schlimm«, hatte Tim gesagt, »da singt die Kelly Family auch immer.« Wovon sich wenig später alle überzeugen konnten.
Darüber, was nun mehr Krach gemacht hatte – das ferngesteuerte Polizeiauto mit Sirene oder die schreiende Babypuppe, deren Geräuschpegel stufenlos verstellt werden
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