Hotel Mama vorübergehend geschlossen
Diplomarbeit gebrütet und nicht auf die Uhr gesehen. Eigentlich hatte ich schon zum Kaffeetrinken dasein wollen.«
»Kaffee gibt's nicht, aber prima Apfelkuchen!« Er war zur Seite getreten und hatte nach dem Koffer gegriffen. »Nun komm erst mal rein, ich glaube, deine Mutter hat noch gar nicht mitgekriegt, daß du da bist. Sie ist nämlich mit innenarchitektonischen Problemen beschäftigt und überlegt seit einer halben Stunde, wie sie zwanzig Personen in ein Zimmer kriegt, in dem schon die Hälfte zuviel ist.«
»Das macht sie jedes Jahr«, hatte Julia gesagt und ihren Mantel in die Garderobe gehängt, »ich weiß auch nicht, weshalb sie sich das immer wieder antut.« Erst dann hatte sie Björn entdeckt, der auf halber Höhe der Treppe stehengeblieben war. »Nanu; wer ist denn das? Wahrscheinlich auch ein Sippenmitglied, aber müßte ich es kennen?«
»Ich glaube schon.« Rüdiger hatte den verunsicherten Jungen bis zur vorletzten Stufe heruntergezogen. »Das ist Björn, der älteste Sproß deines Onkels Urban, und der wiederum ist nicht nur mein Bruder, sondern auch jener Glückliche, dem die Petroldollar von selbst hinterherrollen, so daß er nach dem Motto leben kann: Man versehe mich mit Luxus, auf das Notwendige kann ich verzichten.«
»Das ist doch Quatsch!« hatte Björn gemosert. »Vati muß in Brunei ganz schön schuften für sein Geld.«
»Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann bin ich also deine Tante?« hatte Julia lächelnd gesagt. »Als ich dich zum letztenmal gesehen habe, hast du noch in der Nase gebohrt.«
»Das tut er immer noch!« hatte Rüdiger behauptet und Julia durch die Küchentür geschoben. »Ich billige dir jetzt eine halbe Stunde lang Sentimentalität zu, und dann werden wir beide uns mal um die Beantwortung der Fragen
Wer
sitzt wo?
und
Wer darf auf keinen Fall neben wem sitzen?
kümmern. Das Problem fängt nämlich schon damit an, daß es nur zwei Lehnstühle gibt, aber drei Thronanwärterinnen.«
Natürlich hatte der Zeitplan wieder mal nicht hingehauen, denn Tinchen hatte auf einem gemeinsamen Abendessen bestanden, hatte wieder den Räucheraal hervorgeholt und noch ein paar Köstlichkeiten, die Florians Streifzügen durch Küche und Keller bis dahin entgangen waren, Florian hatte eine Flasche seines ›besseren‹ Weins spendiert, und um zehn Uhr waren er und Tinchen ins Bett geschickt worden. »Ihr habt bestimmt schon genug Arbeit gehabt, um diesen Familientag anzuleiern und durchzuziehen«, hatte Rüdiger gesagt, »jetzt laßt uns mal ran!«
»Aber ihr wißt doch gar nicht, wo …«
»Doch, Mutsch, ich weiß noch, wo die Tischdecken sind und das Besteck«, hatte Julia versichert. »Du solltest mir nur noch aufschreiben, wer alles kommt.«
Das hatte Tinchen getan, und nachdem nun auch geklärt war, wo die zweite Gans gebraten werden konnte, sah sie dem kommenden Auftrieb einigermaßen gelassen entgegen.
Und er kam! Zuerst fuhren Gisela und Fabian vor, sie in dunkelblauem Schneiderkostüm mit Schluppenbluse, diesem von älteren Damen bevorzugten Kleidungsstück, bei dem die am Hals gebundene Schleife gnädig Falten und Runzeln verbirgt, während Fabian eine ausgebeulte Hose trug sowie ein zwar teures, jedoch zerknittertes Sporthemd nebst unerläßlichem Seidenschal. Gisela wünschte ein frohes Weihnachtsfest und reichte ihre Wange zum schwägerlichen Kuß, was Florian geflissentlich übersah und Tinchen mit geschlossenen Augen absolvierte. »Hattet ihr eine halbwegs gute Fahrt?«
»Nein!« sagte Gisela sofort, »Fabian läßt sich nicht überzeugen, daß ein Tempo von 120 Stundenkilometern die ideale und sowohl motorschonende als auch benzinsparende Geschwindigkeit ist, und ich hasse es nun mal, wenn in kurzen Abständen beschleunigt beziehungsweise abgebremst wird.«
»Wenn das deine Einstellung ist, liebe Gisela, dann frage ich mich, weshalb du einen Sportwagen fährst und nicht eins von diesen neuen soliden Sparmodellen.«
»Das, lieber Florian, wirst du wohl nie verstehen! Ich kann mir kein billiges Auto leisten, weil es im Kollegenkreis sofort zu falschen Schlüssen führen würde. Und jetzt darf ich dich wohl um ein Glas Wasser bitten, ja? Meine Tablette hätte ich schon vor einer Stunde einnehmen müssen.«
Florian trabte ab, sein Bruder folgte ihm. »Wie hältst du das mit dieser Xanthippe bloß aus?« Aus der Hosentasche holte Florian zwei Schnapsgläser, aus der Jackentasche einen Flachmann, goß die Gläser voll und schob eins über den Tisch. »Da,
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