Hotel Pastis
Ein paar Sekunden lang rätselte Simon, wo er sich befand. Er blickte aus dem Fenster. Weißer Morgendunst lag über der Ebene, darüber breitete sich ein wolkenloser blauer Himmel aus; zu seiner Überraschung hatte er keinen Kater.
Er wies das Wurstsandwich, das Maman ihm zum Frühstück anbot, zurück und trank seine Tasse Kaffee draußen. Es war noch nicht heiß, und die Luft — die reinste Luft von ganz Frankreich, hatte Bonetto gesagt, als ob er persönlich dafür gesorgt hätte — roch frisch. Auf dem Dorfplatz hatten zwei Frauen ihre Einkaufskörbe abgesetzt, um beide Hände für ein Gespräch frei zu haben; mit schuldbewußtem Blick trottete ein Hund mit den Resten einer baguette im Maul aus einer Straße. Simon beschloß, sich ein bißchen im Dorf umzusehen, bevor er zur Werkstatt hinunterging. Im Büro konnte er auch später noch anrufen.
Er lief durch die breiteste Straße, die vom Platz wegführte, an dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke und dem schmalen Haus vorbei, das als Rathaus diente, und blieb vor einem völlig ausgeräumten Gebäude stehen. Keine Fenster, keine Läden, keine Türen. Auf einem fleckigen, halb verrosteten Schild, das an der Wand lehnte, stand L’ancienne gendarmerie, darunter eine Liste von Namen und Zulassungsnummern sowie die Mitteilung, daß das Dokument auf Anfrage eingesehen werden könne. Simon blickte durch den Eingangsbogen aus Stein und sah den Lubéron, der von einer Öffnung auf der anderen Seite des Gebäudes eingerahmt wurde wie ein Bild. Er stieg über einen Berg von Schutt in einen hohen, langen Raum, in dem Balken, Säcke mit Mörtel, leere Bierflaschen und ganze Haufen von Steinfliesen herumlagen. Elektrische Drähte hingen wie Würmer von den Wänden herunter, und in einer Ecke, am Ende einer breiten Treppenflucht aus Stein, stand eine Zementmischmaschine neben einem hüfthohen Behälter mit trübem Wasser. An einer Wand hatte man in regelmäßigen Abständen Öffnungen herausgeschlagen, durch die sich das Sonnenlicht wie der Schein einer Halogenlampe in den Raum ergoß.
Er ging zu der Wand und blickte durch eine dieser Öffnungen hindurch. Unter ihm fiel das Land in steilen Terrassen ab. Dann entdeckte er Stufen, die zu dem tiefen, rechteckigen Loch eines Schwimmbeckens führten, das sich mit seinen nackten Betonwänden und unverkleideten Rohren noch im Rohbau befand — und dann, dahinter, dieser Ausblick. Simon meinte, noch nie eine imposantere Umgebung fürs Baden gesehen zu haben, und empfand einen Moment lang so etwas wie Neid auf den Besitzer. Aber was sollte das werden? Das Gebäude war riesig groß, viel zu groß für ein Wohnhaus. Er warf einen letzten Blick auf die Berge, die nun, da die Sonne höher stieg, in ein schwaches Purpur getaucht waren. Dann machte er kehrt, um nachzusehen, ob es bei der Reparatur des Porsche bereits Fortschritte gab.
Als er in die Werkstatt kam, vollführte Duclos gerade jene ausladenden Aerobicbewegungen, die in der Provence jede hitzige Debatte begleiten — er zuckte mit den Schultern, wedelte mit den Armen, gestikulierte mit den Händen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; die Augenbrauen wanderten so weit nach oben, daß sie unter seiner Mütze zu verschwinden drohten. Doch die Frau, mit der er sprach, schien davon völlig unbeeindruckt zu sein. Sie rümpfte ungläubig die Nase über dem Stück Papier, das sie in der Hand hielt, und Simon hörte, wie sie Duclos, der die sorgfältige Arbeit und die ehrliche Kostenabrechnung ins Feld führen wollte, das Wort abschnitt. »Non, non et non. C’est pas possible. C’est trop.«
»Mais madame...« Duclos entdeckte plötzlich Simon, der bei den Zapfsäulen stand, und nutzte die Chance, sich davonzumachen. »Ah, monsieur, j’arrive, j’arrive. Excusez-moi, madame.« Madame zündete sich eine Zigarette an und stieß verärgert den Rauch aus, während sie über den Hof stapfte. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, dachte Simon, ist sie nicht aus dem Dorf. Sie war blond und schlank, etwa Mitte dreißig, und hätte ein vornehmer Flüchtling aus der Armani-Boutique am Place Vendôme sein können — allerdings ein Armani-Modell im ländlichen Stil, denn sie trug ein lässiges Hemd aus schwerer Seide, eine helle Gabardinehose, weiche Lederschuhe und eine ebensolche Tasche. Jedenfalls nicht der Typ von Frau, der um eine Werkstattrechnung über ein paar hundert Francs feilschte.
Als Duclos und Simon zum Porsche hinübergingen, hielt die Frau inne und sah zu ihnen hinüber.
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