Hotel
Oberkellner auf der anderen Seite vom Speisesaal und winkte ihn herüber. »Max, hat Chef Hébrand heute Dienst?«
»Nein, Mr. McDermott. Ich hab’ gehört, er ist krank. Souschef Lémieux vertritt ihn.« Der Oberkellner fügte besorgt hinzu: »Falls es wegen der Brathähnchen ist, so haben wir bereits Abhilfe getroffen. Sie werden nicht mehr serviert, und bei den Gästen, die sich beschwert haben, wurde das gesamte Menü ersetzt.« Sein Blick schweifte rund um den Tisch. »Das gleiche werden wir auch hier tun.«
»Im Augenblick interessiert mich mehr, wieso das passieren konnte«, sagte Peter. »Würden Sie Chef Lémieux bitte fragen, ob er einen Moment Zeit für mich hat?«
Da er die Küchentür unmittelbar vor sich hatte, war Peter stark versucht, einfach hineinzustürmen und sich an Ort und Stelle zu erkundigen, warum die Lunchspezialität ungenießbar war. Aber ein solches Vorgehen wäre unklug gewesen.
Beim Umgang mit ihren Küchenchefs richtete sich die Hotelleitung nach einem strengen traditionellen Protokoll, das dem eines königlichen Hofs gleichkam. In der Küche war der Chef de Cuisine – oder in seiner Abwesenheit der Souschef – unbestrittener König. Es war undenkbar, daß ein Hoteldirektor die Küche unaufgefordert betrat.
Chefs konnten entlassen werden, und wurden es auch manchmal. Aber bis das geschah, war ihr Königreich tabu.
Einen Chef aus der Küche zu bitten – in diesem Fall an einen Tisch im Speisesaal –, entsprach dem Protokoll. Tatsächlich grenzte es an einen Befehl, da Peter McDermott, in Warren Trents Abwesenheit, die Leitung des Hotels innehatte. Es wäre für Peter auch noch zulässig gewesen, an der Küchentür zu warten, bis man ihn hereinbat. Aber angesichts dieser offenkundigen Krise in der Küche wußte Peter, daß seine Methode die richtige war.
»Wenn Sie mich fragen«, bemerkte Sam Jakubiec, »ist der alte Chef Hébrand längst pensionsreif.«
Royall Edwards fragte: »Falls er sich zur Ruhe setzt, würde man den Unterschied überhaupt merken?« Das war eine Anspielung, wie sie alle wußten, auf die zahlreichen dienstfreien Tage des Chefs de Cuisine, in denen er sich mit Krankheit entschuldigte. Heute war anscheinend wieder so ein Tag.
»Das Ende kommt für uns alle schnell genug«, knurrte der Chefingenieur. »Es ist nur natürlich, daß man’s hinausschieben möchte.« Es war kein Geheimnis, daß die schonungslose Härte des Rechnungsprüfers dem von Natur gutmütigen Doc Vickery zuweilen auf die Nerven ging.
»Ich kenne unseren neuen Souschef noch nicht«, sagte Jakubiec. »Vermutlich hat er seine Nase noch nicht aus der Küche gesteckt.«
Royall Edwards blickte auf seinen kaum berührten Teller. »Dann muß seine Nase ein erstaunlich unempfindliches Organ sein.«
Im gleichen Moment schwang die Küchentür auf. Ein Pikkolo, der gerade hindurchgehen wollte, trat ehrerbietig zurück, als Max, der Oberkellner, zum Vorschein kam. Ihm folgte in einigen Schritten Abstand eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in gestärktem weißem Kittel, mit hoher weißer Mütze und darunter einer Miene tiefsten seelischen Elends.
»Gentlemen«, verkündete Peter, »falls Sie einander noch nicht kennen, dies ist Chef André Lémieux.«
»Messieurs!« Der junge Franzose blieb stehen und hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Daß mir das mußte passieren … ich bin verzweifelt.« Seine Stimme klang erstickt.
Peter McDermott war dem neuen Souschef seit dessen Ankunft vor sechs Wochen mehrmals begegnet. Bei jedem Zusammentreffen schloß er den Neuankömmling mehr ins Herz.
André Lémieux’ Einstellung erfolgte nach dem überstürzten Abzug seines Vorgängers. Der frühere Souschef hatte, nach monatelangen Enttäuschungen und innerlichem Schäumen, seiner Wut über seinen Vorgesetzten, den alternden M. Hébrand, Luft gemacht. Normalerweise wäre die Szene im Sande verlaufen, da Gefühlsausbrüche bei den Chefs und Köchen – wie in jeder großen Küche – sehr häufig vorkamen. Der Zusammenstoß fiel jedoch insofern aus dem Rahmen des Üblichen, als der ehemalige Souschef eine Terrine mit Suppe nach dem Chef de Cuisine schleuderte. Glücklicherweise handelte es sich bei der Suppe um Vichys-Soße, sonst wären die Folgen noch ernster gewesen. Es war ein denkwürdiges Schauspiel, als der Chef de Cuisine, vor Nässe triefend, seinen Assistenten zum Personalausgang eskortierte und dort – mit einer für sein Alter erstaunlichen Energie – auf die Straße warf.
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