Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
den Magen zusammen. Endlich schafft es mein Flugschüler, die Maschine zum Stehen zu bringen. Ein paar hundert Meter weiter hinten als geplant rollt die Lehrmaschine aus. Mit einem Seufzen nehme ich das Headset vom Kopf und schaue den Piloten neben mir an, der zerknirscht an irgendwelchen Knöpfen herumspielt.
Einen Anpfiff kann der jetzt nicht vertragen, denke ich. Also lieber die Wattepackung: »Hey, morgen früh versuchen wir es gleich noch mal. Wird schon.«
Später, bei einem Kaffee in der Flugkantine, lasse ich meinen Frust raus: »Warum nur kriegt der das nicht hin?«
Kollege Herbert nippt in aller Seelenruhe an seinem Kaffee.
»Das war jetzt schon seine dreiundsiebzigste Landung, und wieder ist er zu schnell und zu hoch angeflogen. Wenn ich nicht irgendwann das Gas rausgenommen hätte, wären wir erst in Amsterdam auf den Boden gekommen!«
»Vielleicht wollte er dort ja hin«, grinst Herbert.
Wenn er zu langsam fliegt, knallt er runter wie ein Stein.
Die Landung ist das Schwierigste beim Fliegen. Um ein Flugzeug in die Luft zu bekommen, braucht es nur ein bisschen Fingerspitzengefühl. Es in der Luft zu halten ist kinderleicht, solange der Pilot nicht meint, herumhampeln zu müssen. Aber beim Landen muss er zeigen, was in ihm steckt. Da kann er am meisten falsch machen: Er muss die Landebahn finden und sie in einem bestimmten Winkel und im richtigen Tempo anfliegen. Wenn er zur Landung ansetzt und zu schnell fliegt, kommt er nie runter und muss warten, bis der Sprit ausgeht, bevor er nach Hause gehen kann. Wenn er zu langsam fliegt, knallt er runter wie ein Stein. Es hat schon seinen Grund, dass es in Katastrophenfilmen immer erst dann richtig zur Sache geht, wenn die blutjunge Stewardess versucht, die 747 sicher zu landen, während sich die beiden Piloten mit einer Lebensmittelvergiftung am Boden winden.
Herbert streut Salz in meine Wunde: »Meine Flugschüler brauchen so zwischen vierzig und fünfzig Landungen, bis sie es sicher können. Einer war dabei, der war schon nach der fünfundzwanzigsten Landung durch.«
»Wow!«, kann ich da nur sagen. »Meine Schüler brauchen meistens sechzig bis achtzig Versuche. Wieso bin ich es immer, der die Pappnasen bekommt? Sag mal, was war das Besondere an deinem begabten Schüler? Wie hat der das so schnell gepackt?«
»Er hatte ein gutes Gespür für die Maschine, das ist das eine. Und dann war er auch immer voll konzentriert. Der ist nämlich beim siebten Versuch mal beinahe im Wäldchen vor der Landebahn gelandet. Das wäre beinahe schiefgegangen. Der war kreideweiß im Gesicht. Von da an hat er höllisch aufgepasst.«
»Hast du denn nicht eingegriffen?«
»Klar, aber erst im letzten Moment. Sonst hätte er es doch gar nicht gecheckt.«
Hm. Ich lasse die letzte Flugstunde noch einmal im Kopf Revue passieren und plötzlich fällt es wie Schuppen von meinen Augen: Bei der Platzrunde vorhin habe ich, sobald sich abzeichnete, dass der Schüler in einem zu flachen Winkel runterkam, sofort eingegriffen. Nur ein kurzer Stups an meinem Steuer, und die Piper war wieder auf Kurs. Wahrscheinlich hat das mein Schüler gar nicht registriert. Dann hat er ein bisschen schräg in der Luft gehangen. Hey, sollte das ein Slip werden? Und wieder habe ich eingegriffen und den Vogel ausgerichtet. So ging das weiter, bis wir endlich unten waren. Mit einer Fünf minus als B-Note. Wenn ich aber jedes Mal sofort korrigiere, sobald mein Flugschüler dabei ist, einen Fehler zu machen – wie soll er da merken, was er falsch gemacht hat?
Im rufe mir zahllose andere Flugstunden in Erinnerung, die ich schon gegeben habe. Das Muster ist klar: Ich greife zu schnell ein. Sobald ich sehe, dass etwas nicht ganz passt, korrigiere ich. Ich könnte mir selbst in den Hintern treten. Ich selber habe dafür gesorgt, dass meine Schüler so langsam lernen!
Keine Bewegung!
Fehler zu machen ist erbärmlich. Es ist beschämend. Wer beim Radfahren den Stein nicht sieht, küsst den Asphalt. Wer im Medizinertest die falschen Kästchen ankreuzt, kann sich von seiner Laufbahn als Arzt verabschieden. Wer sich beim Vorstellungsgespräch idiotisch anstellt, bekommt einen warmen Händedruck zum Abschied – und nicht den Job. Das ist hart. Und es tut weh.
Die normale Reaktion: Fehler vermeiden. Schmerzen vermeiden. Um jeden Preis. Bloß nicht danebenlangen. Das ist der Grund dafür, dass Menschen im Urlaub so gerne Schnitzel mit Pommes essen. Würden sie das Gericht bestellen, dessen Übersetzung im
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