Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
ziemlich desinteressierten Pädagogik-Studenten des 5. Semesters auf unbequemen Stühlen. Vorne steht ein Dozent, der uns in die Feinheiten des Sachunterrichts einweisen soll. Ich fühle mich unwohl und deplatziert und das liegt bestimmt nicht nur an der miserablen Akustik.
Ich habe das Fach Pädagogik bereits abgeschlossen, allerdings »nur« an der Fachhochschule. Nun will ich noch einen Doktortitel draufsetzen. Aber dazu muss ich erst das Pädagogik-Diplom machen, also ein paar der Kurse des Diplom-Studiengangs nachholen. Das ist so, als müsste ein Abiturient noch einmal in die neunte Klasse gehen, um den Bio-Unterricht nachzuholen.
Der Dozent da vorne ist ein junger Kerl, ich frage mich, ob der überhaupt schon über dreißig ist. Gut vorbereitet ist er nicht. Er redet ziemlich wirr über Entdeckendes Lernen und Stationenlernen. Was er an das Whiteboard schreibt, macht die Sache nicht übersichtlicher. Kreuz und quer bedecken unzusammenhängende Stichwörter und Halbsätze die Tafel.
Irgendwann tritt der Typ einen Schritt zurück und lacht beifallheischend. »Was ich hier wieder zusammenkritzle! Ganz schön durcheinander, was?« Die Studenten lachen pflichtschuldig zurück. So geht das die ganze Vorlesung weiter. Der Dozent biedert sich bei seinen Studenten an und kokettiert mit seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz gerade hinzuschreiben. Mich nervt das.
Cargohose und bemüht trendiges Sweatshirt. Ist der schon in der Midlife-Crisis?
So langsam bekomme ich schlechte Laune. Was mache ich eigentlich hier? Muss ich mir wirklich diese miserable Vorlesung antun? Ein Prof, der gerade mal ein paar Jahre älter ist als ich, und Kommilitonen, die noch richtige Babys sind. Was mich aber wirklich ärgert, ist, dass der Typ da vorne seinen Job nicht macht. Der wäre wohl viel lieber Student! Schon allein seine Klamotten sprechen Bände: bemüht trendiges Sweatshirt mit irgendeinem Surfer-Aufdruck. Cargohose. Ist der denn schon in der Midlife-Crisis?
Während sich der Typ da vorne weiter produziert, fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Ich bin ja kein bisschen besser als der! Auch ich kann nicht loslassen. Eigentlich will ich nur promovieren, um weiter Student bleiben zu können. Denn Student sein ist das, was ich kann. Das ist es, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. Und es hat mir gefallen. Mit dem Abschluss in der Tasche wäre es Zeit, den nächsten Schritt zu gehen. Aber ich wollte, dass alles so bleibt, wie es war. Ich wollte nicht aufhören, auf Feten zu gehen. Und am allerwenigsten wollte ich damit anfangen, ein Leben zu führen, das meiner Meinung nach nur wenig Aufregung, wenig Kick bieten würde.
Ich lerne in dieser Vorlesung nicht viel über Pädagogik. Aber eine ganze Menge über mich selbst.
In die Steinzeit gebombt
Wenn du mit einer Lebensphase nicht abschließen willst, dann ist das erst einmal ein gutes Zeichen. Dann hast du eine Zeit hinter dir, die schön für dich war und in der du dich wohlgefühlt hast. Du hattest ein gute Beziehung, die Familie mit zwei Kindern funktionierte toll, dein bester Freund wohnte direkt um die Ecke. Ich kann nur hoffen, dass du es genossen hast, solange es so war.
Denn jetzt ist es anders geworden: Deine Frau ist mit einem anderen über alle Berge, das erste deiner Kinder ist bereits aus dem Haus und das zweite macht gerade Abi. Und dein Freund arbeitet jetzt in Singapur.
Das ist hart!
Du kannst natürlich versuchen, deine Ex zu stalken, deine Kinder so abhängig zu halten, dass sie wenigstens jedes Wochenende heimkommen. Und du kannst dem CEO deines Freundes schreiben, er möge ihn doch bitte wieder nach Deutschland zurückschicken. Aber wenn du nur halbwegs deine Sinne beisammen hast, tust du das nicht.
Damals in Würzburg hatte ich mich davor drücken wollen, mich von einem Lebensabschnitt, der eigentlich schon zu Ende war, zu verabschieden und den nächsten zu beginnen. Hätte ich damals nicht die Kraft gefunden, loszulassen und etwas Neues anzufangen, wäre ich wohl in ewigem Angedenken an die guten alten Zeiten versteinert. Wahrscheinlich hätte ich noch fünf Jahre später an meiner Dissertation geschrieben und von einer halben Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft gelebt. Es gibt kaum etwas Traurigeres als einen Studenten im 21. Semester.
Menschen, die in der Vergangenheit leben und nicht wahrhaben wollen, dass sich die Dinge um sie herum längst geändert haben, gibt es zur Genüge. Zum Beispiel all diejenigen, die immer noch
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