Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
Versicherungen abschließen. Gegen andere nicht. Ich habe noch von keiner Versicherung gehört, die dich gegen den Fall absichert, dass dich dein Lebenspartner verlässt und die Hälfte der Firma fordert. In bar.
Alle 100 Jahre passiert so etwas.
Wenn du deine Liste schreibst, dann solltest du auch die Eintrittswahrscheinlichkeit berücksichtigen. Noch vor einiger Zeit hätte ich gesagt: Kümmer dich nicht darum, was du tun solltest, wenn ein Meteor die Erde trifft. Diese Einschätzung hat sich seit dem Februar 2013 geändert. Damals verglühte nämlich über dem sibirischen Tscheljabinsk ein kleiner Meteorit. Die Druckwelle zerstörte allerdings Gebäude und Fenster im weiten Umkreis. Das Ganze ging noch erstaunlich glimpflich aus; obwohl 1500 Menschen sich wegen Splitterverletzungen behandeln lassen mussten, ist doch keiner gestorben. Alle 100 Jahre passiert so etwas.
Wenn du willst, kannst du also ruhig den Einschlag eines Himmelskörpers auf deine Liste nehmen: Wenn das Ding ein paar Kilometer neben dir einschlägt, was würdest du in den zehn Sekunden tun, die zwischen dem Lichtblitz und dem Eintreffen der Druckwelle vergeht? Noch schnell ein paar Fenster aufreißen, damit sie nicht durch die Druckwelle zerstört werden? Dich in Sicherheit vor umherfliegenden Trümmern bringen? Wenn deine Fenster kaputt gehen, sofort zum Glaser rennen und ihn beknien, dich zuerst dranzunehmen? Nach Bruchstücken suchen, um sie zu verkaufen? – Deine Wahl. Okay. Ein Meteor ist trotzdem unwahrscheinlich. Aber was ist damit:
Dein Kind erkrankt schwer
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Du hast einen Unfall und liegst sieben Monate im Krankenhaus
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Dein Konkurrent aus China stellt dasselbe Produkt für den halben Preis her
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Dein Laptop mit sensiblen Daten wird geklaut. Du hast keine Sicherheitskopie
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Dein Haus brennt ab
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Du sitzt am Steuer deines Jets und alle deine Triebwerke fallen aus
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Auf manches auf deiner Liste hast du Einfluss, auf anderes nicht. Dann ist es sowieso egal, oder?
Vom Eis befreit
Als ich noch Fluglehrer war, habe ich manchmal mitten in der Flugstunde den Motor ausgeschaltet. Also nicht wirklich ausgeschaltet, aber zumindest auf Leerlauf genommen. Glaub mir, wenn du noch nicht sehr viel Erfahrung hast, fühlt sich das genauso an, als wenn der Motor steht. Wenn das Brummen des Propellers plötzlich aussetzt, ist das für die Flugschüler das Schlimmste, was passieren kann. Sie sind überrascht, geschockt, im ersten Augenblick völlig handlungsunfähig.
Am Boden haben wir das vorher immer wieder durchgesprochen. Hundertmal. Wenn der Motor ausfällt, liegt das in den meisten Fällen daran, dass er keinen Sprit mehr bekommt. Flugzeuge haben mehrere Tanks. Bei kleineren Flugzeugen ist normalerweise einer im rechten und einer im linken Flügel. Höchstwahrscheinlich hast du einfach vergessen, die Tanks umzuschalten. Und dein Motor versucht jetzt krampfhaft etwas zu holen, wo nichts zu holen ist. Schaltest du auf den anderen Tank, läuft der Motor binnen Sekunden wieder. Du glaubst gar nicht, wie beruhigend Fluglärm manchmal sein kann. Manchmal ist es aber auch der Vergaser. In der Luft ist es sehr kalt und der Vergaser vereist. Vereister Vergaser – kein Sprit. Dafür gibt es die Vergaservorwärmung. Wenn du die einschaltest, ist der Vergaser ruck, zuck wieder eisfrei und dein Motor läuft.
In 98 Prozent der Fälle.
Manchmal ist es nicht so einfach. Im schlimmsten Fall musst du eben ohne Motorkraft landen. Dann wird aus deinem Motorflugzeug ein Segelflieger. Jetzt brauchst du zwei Dinge: einen Platz zum Notlanden und jemanden, der weiß, dass du ein Problem hast und die entsprechenden Maßnahmen einleitet. Für den zweiten Teil gibt es ein einfaches Gerät: den Transponder. Der Transponder sendet einen vierstelligen Zahlencode, den jeder Lotse auf seinem Schirm sehen kann. Für alle möglichen Fälle gibt es eine Kennziffer. In deinem Fall ist das die Kennziffer für eine Notlage: 7700. Dann gibt es auch noch die 7500 für Entführung und die 7600 für Funkausfall. Das kann man sich übrigens ganz leicht merken:
»seven five«: Man with a knife. »seven seven«: Pray to heaven. Und »seven six«: I hör nix
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Diesen Code stellst du ein und jetzt musst du runter. Jedes Flugzeug hat einen bestimmten Gleitwinkel, in dem es zu Boden segeln kann. Fällt der Motor aus, musst du dir also einen Platz suchen, wo du landen kannst. Eine Wiese, möglichst ohne Zäune, Gräben und Hochspannungsleitungen, eine wenig befahrene Straße …
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