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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Richtung. Er machte sich nicht die Mühe, so zu tun, als verstünde er den Kommentar nicht. Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.
     

ELF
    F red stand in der Tür, als ich die Vordertreppe heraufkam. Mit besorgtem Gesicht schaute er dem Taxi nach. In der grauen Strickjacke und der gebügelten dunkelblauen Hose wirkte er stattlich und robust, nicht wie ein Fünfundsiebzigjähriger.
    »Isabel Blue«, sagte er.
    Er nannte mich so, seit wir uns ein paar Jahre nach seiner Hochzeit mit Mutter angefreundet hatten. Zufälligerweise war meine Schwester zur selben Zeit ausgezogen, um das College zu besuchen. Als sie nach New York ging, um an der Columbia zu studieren, nahm sie ihre ganze Wut mit. Ich hatte meine ältere Schwester immer angehimmelt und bedauerte ihren Auszug, aber gleichzeitig musste ich zugeben, dass die Stimmung im Haus ohne sie besser war.
    So als hätte man einen rutschigen Gehweg gestreut, fanden wir drei besseren Halt. Mit einem Mal waren wir in der Lage, der Erinnerung an meinen Vater einen Platz in unserem Haus zu geben: Wir hängten alte Fotos auf, und meine Mutter und ich unterhielten uns in aller Offenheit über das Gute, an das wir uns erinnern konnten. Linda hatte es gehasst, wenn man seinen Namen nur erwähnte, und an seinem Geburtstag und am Vatertag verfiel sie regelmäßig in Depressionen. Ihre Traurigkeit konnte Linda am besten durch Wut ausdrücken, und ihre Ausbrüche waren häufig und vehement. Als sie erwachsen wurde, bekam sie das Problem mithilfe einer Therapie und Erik in den Griff. Aus Loyalität zu ihr - und nicht zuletzt aus Angst vor ihren Launen - hatte ich mich während der ersten Jahre von Fred ferngehalten.
    Fred ertrug Lindas Ausbrüche mit stoischer Gelassenheit, so als wäre er im Grunde überzeugt, ihren Hass verdient zu haben. Vielleicht war es tatsächlich so. Als sich der Nebel von Lindas Unglück verzogen hatte, saßen Fred und ich am Küchentisch und konnten einander zum ersten Mal unvoreingenommen betrachten. Ich trug meine Schuluniform und war traurig, weil ich meine Schwester vermisste. Er sagte: »Isabel Blue.«
    Ich sah ihn an, und er lächelte mich freundlich an. »Es ist halb so wild, Isabel. Euch trennt nur eine kurze Zugfahrt.«
    Damals fand ich keine Worte für die traurige Leere in mir, für die Einsicht, dass sich alles ständig verändert, dass Menschen sterben oder weggehen und dass man sich dem Leben trotzdem stellen muss. Mir, der Dreizehnjährigen, kam das schrecklich ungerecht vor. Wozu gab man sich überhaupt Mühe, wenn am Ende alles verwehte oder einem gewaltsam genommen wurde?
    »Nun, da mein Speicher vom Feuer vernichtet ist, sehe ich den Mond.« Fred hatte eine Schwäche für Haikus.
    Was für ein komischer Typ. Immer diese dummen Sprüche, immer diese langen Spaziergänge. Wie hat sie ihn bloß heiraten können? Die boshaften Kommentare meiner Schwester spukten mir noch im Kopf herum. Aber an dem Morgen entdeckte ich einen vollkommen anderen Menschen. Nun, da sie fort war und mich nichts mehr beeinflussen konnte, sah ich einen liebenswürdigen Mann, meinem Vater nicht unähnlich, nur viel aufmerksamer, rücksichtsvoller - meinem Vater ganz unähnlich. Sogar wenn mein Vater gelacht und Witze gerissen hatte, konnte ich in seinen Augen etwas glimmen sehen: Angst, Unglück?
    »Was soll das heißen?«, fragte ich. Der Rhythmus der Worte gefiel mir. Ich mochte es, wie jedes einzelne mit seinem besonderen Gewicht zu Boden sank und die Bedeutung in der Luft hängen blieb.
    »Denk drüber nach.«
    Das tat ich. Ich dachte oft darüber nach.
     
    »Deine Mutter ist nicht hier, Liebes«, sagte Fred, trat beiseite, legte seinen starken Arm um meine Schulter und führte mich ins Haus. Er betrachtete meinen Kopfverband, ohne etwas zu sagen. Vielleicht hielt er das für unhöflich. »Sie lässt sich mit ihren Freundinnen auf der Canyon Ranch verwöhnen.«
    »Ich weiß«, erwiderte ich, ließ mir den Wollumhang abnehmen und mied jeden Blickkontakt.
    Er legte meinen Poncho auf die Sitzbank in der zwei Stockwerke hohen Eingangshalle. Durch die Oberlichter fielen Sonnenstrahlen herein, die sich in den Kristallen des Kronleuchters brachen und den Fußboden mit Lichttupfern in allen Regenbogenfarben sprenkelten.
    Wäre meine Mutter da gewesen, hätte ich Lärm gehört - den Fernseher, Musik, ihre Stimme am Telefon. Die hohen Decken und die Marmorböden hätten die Geräusche zurückgeworfen, so dass sie das ganze Haus erfüllten. Meine Mutter konnte

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