Hueter der Daemmerung
spielen. Doch wenn sie erst mal ihren Zweck erfüllt hätte …
Raziel drehte sich mit seinem Schreibtischsessel hin und her und gestattete sich, ein wenig davon zu träumen, wie es wäre, wenn sein gewagtes Spiel aufginge und bei dem Mordanschlag tatsächlich lediglich die Zwölf ums Leben kämen. Im Großen und Ganzen waren Engel konservative Wesen. Wenn sie den Schock über das Verschwinden des Konzils erst einmal überwunden hätten, würde er sich kaum auf ernsten Widerstand gegen seinen Herrschaftsanspruch einstellen müssen – sondern eher auf viele Engel, die um einen Posten in seiner neuen Regierung baten. Der Gedanke ließ ihn lächeln. Er hatte so viele Pläne für diese Welt.
Der neueste, Camp Angel, war besonders aufregend.
Raziel hatte seit Langem gehofft, einen Weg zu finden, der es den Engeln gestatten würde, sich an sämtlichen Menschen zu laben und nicht nur an jenen, die zumindest äußerlich einen Anschein von Reife erreicht hatten. Kindliche Energie war so außerordentlich köstlich, allerdings gehörte es sich natürlich nicht: Wenn sie sich von zu vielen Kindern nährten, würden die Engel sich schon bald ihr eigenes Grab schaufeln. Aber bei Familien, die in geschlossenen Wohnanlagen wohnten, könnte er exakt die Übersicht behalten, wer den Engeln als Nahrung diente – und bei sorgfältiger Planung könnten die Engel ihren Gelüsten nachgeben, unabhängig davon, wie alt ihre Opfer waren.
Wie eine Kälberfarm, dachte Raziel zufrieden. Und als er sich an seine Belehrung durch das Konzil über die Bedeutung der Mäßigung erinnerte, lachte er laut auf.
16
Alles, was Kara auf ihrem Horchposten in der Kathedrale zusammentragen konnte, war, ja, die Zwölf sind drei Wochen lang hier, aber alles, was ihren Aufenthalt betraf, unterlag strengster Geheimhaltung. Kaum jemand in den Kirchenbüros wusste mehr als das. Deshalb hatte Alex, nach ein wenig Recherche im Internet, einen Termin bei einer Versicherung vereinbart, deren Büroräume sich im vierundfünfzigsten Stockwerk des Torre Mayor befanden – nur ein Stockwerk unterhalb der obersten Etage.
Er hatte die Metro genommen und war das letzte Stück zu Fuß gegangen. Der Torre Mayor war das höchste Gebäude in ganz Mexiko und sah auch so aus. Majestätisch überragte er seine Umgebung. Alex, der von dem Paseo de la Reforma kam, sah, dass der Halbzylinder aus grünem Glas nur den vorderen Teil des Gebäudes ausmachte. Die Rückseite war ein rechteckiger hellbrauner Klotz. Der Eingang, ein mehrere Stockwerke hoher, anmutiger Bogen, griff die Halbmondform von der Spitze des Gebäudes wieder auf und wurde von schlanken grauen Säulen unterteilt.
Alex betrat das Gebäude und fand sich in einer Lobby unter einem schräg abfallenden Glasdach wieder. Genau wie Kara gesagt hatte, wurde der Zugang zum Gebäude durch elektronische Kartenlesegeräte gesteuert. Angestellte, die sie passierten, berührten sie kurz mit ihren Ausweisen. »Richard Singer«, sagte Alex zu einer Rezeptionistin an einem gläsernen Empfangstresen. »Ich habe einen Termin bei Prima Life.«
Die Frau schöpfte nicht einmal ansatzweise Verdacht. Sie führte lediglich ein Telefongespräch, um sich seine Angaben bestätigen zu lassen. Dann schob sie ihm ein Klemmbrett hin, in das er sich eintragen sollte. Alex nahm den Besucherausweis entgegen, den sie ihm aushändigte, und ging durch die Kartenleser. Dabei fielen ihm die Kameras auf, die in verschiedenen Ecken installiert waren und jede seiner Bewegungen überwachten.
Im Internet hatte das Team allerhand über den Torre Mayor herausgefunden: Außer, dass er extrem gut geschützt war, war er auch das erdbebensicherste Gebäude der Welt, das sogar Erschütterungen eines Bebens der Stärke Neun auf der Richter-Skala standhalten konnte. Grundrisse waren allerdings nirgendwo zu finden gewesen, zumindest nicht online. Aber obwohl es auf der Website des Torre Mayor nicht erwähnt wurde, hatten sie in einem Blog einen Hinweis entdeckt, in dem es hieß, dass die oberste Etage – unmittelbar unter dem halbmondförmigen Dach – Hochsicherheitssuiten für VIPs sowie Konferenzräume beherbergte.
Im Fahrstuhl hatte sich neben einer weiteren Kamera ein Fahrstuhlführer befunden, der ihn gefragt hatte, in welche Etage er wollte. »Fünfundfünfzigste«, hatte Alex geantwortet, nur um zu sehen, was passieren würde.
Die Augenbrauen des Mannes zogen sich zusammen, während er Alex’ Besucherpass überprüfte. »Tut mir leid, Señor.
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