Hueter der Daemmerung
Bittsteller, seine Lippen bewegten sich im Gebet, während er die Hand des Mannes hielt. Die Frau, die er zuvor gesegnet hatte, blieb mit gesenktem Kopf knien.
Und wie aus dem Nichts schoss Seb ein Gedanke durch den Kopf: wie gut und richtig sich das hier anfühlen würde, wenn nur die Umstände anders wären. Und dann malte er sich aus, wie es wäre, eines Tages zusammen mit Willow auf einen Altar wie diesen zuzugehen. Würde sie das Gleiche empfinden, wäre er sogar jetzt sofort dazu bereit, obwohl sie beide noch so jung waren. Denn als er auf dieses Mädchen – diese Frau – an seiner Seite heruntersah, wusste er, dass sie die Einzige war, die er auf ewig lieben würde. Fast sein ganzes Leben lang hatte ihr sein Herz gehört. Sie war ein untrennbarer Bestandteil seines Wesens.
Sie erreichten die Balustrade und knieten nebeneinander auf blauen Samtkissen nieder. Vor ihnen funkelte der große goldene Altar. Willow senkte den Kopf. Seb konnte spüren, dass sie sich voll und ganz auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrierte. Er verdrängte seine Gedanken, machte seinen Kopf frei und driftete in den entspannten Zustand, in den er sich für das Wahrsagen zu versetzen pflegte.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, doch endlich langte der Prediger bei Seb an. Seine Augen waren sanft und freundlich. »Wünschst du den Segen der Engel, mein Sohn?«
»Ja, Pater.« Seb streckte seine Hand aus, spürte, wie der Priester sie nahm.
Ein Strudel von Gefühlen, Bilder, Wissen. Seb sank das Herz. Das hier war gar nicht der normale Prediger – der normale Prediger war krank. Dieser Mann kam aus einem anderen Bundesstaat und war hier nur zu Besuch. Und obwohl er bei dem Gedanken, in ein paar Tagen dem Konzil zu begegnen, völlig aus dem Häuschen war, war er erst wenige Stunden zuvor hier eingetroffen – und hatte bislang noch kaum Gelegenheit gehabt, überhaupt mit irgendjemandem zu sprechen, bevor er gebeten worden war, den Abendgottesdienst abzuhalten. Seb bohrte sich tief in die Gedanken des Mannes, aber ihn verließ der Mut. Hier war nichts zu holen. Dieser Mann wusste über die Einzelheiten des Empfangs noch nicht Bescheid.
Der Priester berührte ganz leicht Sebs geneigten Kopf und ging dann zu Willow weiter. Seb blieb, wo er war. Einen Augenblick später spürte er ihre Entmutigung und wusste, dass sie das Gleiche herausgefunden hatte wie er. Zuletzt ging der Prediger weiter zu einem Mann, der einen grauen Anzug trug.
Seb drehte seinen Kopf, der auf seinen gefalteten Händen ruhte, und warf Willow aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Ihre Augen trafen sich. Sie biss sich auf die Lippe und sah zu der Gewölbetür im Schatten hinüber, die zu den Büroräumen führte. »Seb, wir müssen da rein«, flüsterte sie.
Er nickte widerstrebend, während er den Bürozugang beäugte. Vielleicht könnte er Willow im Flur zurücklassen, während er versuchte, an den Engeln vorbeizukommen.
Sie musterte ihn mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. »Das denkst auch nur du«, murmelte sie.
Seb stieß die Luft aus und sah erneut auf die Tür. Dabei geriet die Frau, die der Prediger als Erste gesegnet hatte, in sein Blickfeld. Sie kniete noch immer an derselben Stelle, ihre Stirn lag auf ihren gefalteten Händen … aber Sebs Augen wurden groß, als er ihre Aura bemerkte. Die anderen Energiefelder an der Balustrade waren entweder grau und kränklich oder schimmerten in sanften, andächtigen Pastelltönen. Ihre dagegen war von einem hässlichen, hinterhältigen Senfgelb, durch das sich hochrote Adern zogen.
Noch während er sie beobachtete, löste sie eine ihrer Hände von der Balustrade, um an deren Unterseite etwas festzukleben. Dann stand sie auf und ging schnell davon.
Sebs Haut kribbelte, als ihn plötzlich ein ungutes Gefühl überkam. Er drehte sich um und sah mindestens zehn Menschen mit ähnlichen Auren, die jetzt alle auf einen der Seitenausgänge zustrebten. Mittlerweile rannte die Frau. Ein Mann wirbelte herum, als er die Tür erreichte, und rief: »El DF ist sterbenskrank! Geld für Ärzte, nicht für Engel!«
Als die erste Explosion die Kathedrale erschütterte, warf Seb sich auf Willow, riss sie zu Boden und schützte sie mit seinem Körper. Er hörte sie aufschreien und kniff die Augen fest zusammen, als sich eine neuerliche Explosion ereignete. Und noch eine. Rund um sie herum prasselte es auf dem Fußboden, und etwas Kleines und Hartes prallte von Sebs Rücken ab. Rauchgeruch – Willows zitternder Körper
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