Hueter der Daemmerung
Augen wirkten riesig. Er sah, wie sie schluckte. »Ich … ich wusste gar nicht, dass du so was kannst«, sagte sie. In der Ferne heulten Sirenen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht«, brachte er heraus.
Hinter ihnen ging der Kampf unvermindert weiter, obwohl die Engel, die sich daran beteiligt hatten, inzwischen verschwunden waren. Offensichtlich hatten sie sich dem größeren Schwärm angeschlossen. In der Nähe splitterte Glas; weiter weg sah er eine Menschenmeute, dunkle Figuren, die rannten. Ein brennendes Auto.
Plötzlich schnappte Willow nach Luft. »Oh mein Gott – Alex! Ich habe total vergessen …« Sie tastete erst in ihrer einen, dann in ihrer anderen Jackentasche nach dem Handy. Ihre Miene wurde panisch. »Mein Telefon ist weg! Es muss in der Kathedrale herausgefallen sein …«
Seb klopfte auf seine Hosentasche, wusste aber schon, dass auch er kein Telefon mehr hatte. Es war für ihn so ungewohnt, eins zu besitzen, dass er es ständig vergaß. Der Gedanke verblasste, als er auf das brennende Auto starrte. Ohne Willow zu antworten, verband er sich mit seinem Engel und flog in die Nacht davon. Er schwebte über der Kathedrale, während er seinen Blick über die Straßen in ihrer Umgebung schweifen ließ.
Das centro stand in Flammen.
So wirkte es zumindest auf den ersten Blick. Überall waren Krawalle ausgebrochen – Menschen strömten durch die Straßen, warfen Ladenfenster ein, legten Feuer. Irgendwo fielen Schüsse. Mehr Sirenen. Der Zócalo schien aus einer einzigen wogenden Menschenmenge zu bestehen, Seb konnte kaum den Eingang zur Metro ausmachen. Und wohin er auch blickte, beinahe überall bot sich ihm das gleiche Bild. Und das Haus der Engeljäger lag mehr als anderthalb Kilometer weit entfernt in Richtung Süden, direkt hinter dem Getümmel – jeder Versuch, jetzt dorthin zurückzukehren, wäre heller Wahnsinn.
Willows Engel hatte sich zu ihm gesellt. Sie flog eine Runde, ihr hübsches Gesicht war verstört. Unten, auf der Erde, starrte Willows menschliches Ich ihn an. »Wo sind Alex und das Team?«, flüstere sie mit erstickter Stimme. »Ich kann sie nirgendwo entdecken! Glaubst du –« Sie brach ab.
Seb packte ihre Hand. »Kannst du sie nicht spüren?« Er meinte: Kannst du Alex nicht spüren? Er selbst stand niemandem im Team nahe genug, weshalb er sich nicht die Mühe machte, es überhaupt erst zu versuchen. Die Einzige, der er jemals nahe genug gestanden hatte, um sie spüren zu können, war Willow.
Als ihre Engel zu ihren menschlichen Körpern zurückkehrten, schloss Willow ganz fest die Augen. Endlich nickte sie kurz. »Sie sind am Leben«, sagte sie. »Ich glaube … ich glaube, sie sind alle okay. Ich kann es nicht wirklich sagen, weil ich zu aufgeregt bin, um viel zu erfahren.« Ihre Miene war schmerzerfüllt. Seb wusste, dass sie an Alex dachte, und das Entsetzen fuhr ihm durch alle Glieder, als ihm einfiel, was er ihr noch erzählen musste.
Die Schreie hinter ihnen wurden lauter. Mehr Menschen stürzten sich ins Getümmel. Als Seb sich umsah, vermochte er nicht mehr zu sagen, ob immer noch die Aktivisten gegen die Gläubigen kämpften, oder ob einfach nur ein barbarischer Herdentrieb die Menschen erfasst hatte. Fröstelnd fielen ihm die Engelsflügel ein, die sie beide trugen. »Komm schon, weg mit den Dingern«, sagte er und riss sich die Gummiband-Träger von den Schultern. Einen Augenblick später lagen beide Flügelpaare neben der Kathedrale auf dem Boden.
»Und was jetzt?«, fragte Willow mit einem winzigen Stimmchen. Immer noch drückte sie den Aktenordner an ihre Brust und Seb merkte, dass es ihr nur mühsam gelang, die Fassung zu wahren. Der Anblick der Menschen, die sie hatte sterben sehen, drohte sie zu überwältigen und ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie räusperte sich. »Ich … ich glaube nicht, dass wir uns in absehbarer Zeit zum Haus durchschlagen können.«
»Nein, das wäre zu riskant«, stimmte Seb zu. Auch er fühlte sich wie zerschmettert von dem, was sie mit angesehen hatten. Er sehnte sich danach, Willow in die Arme zu nehmen und sie bis in alle Ewigkeit festzuhalten und sie beide zu trösten. Aber sie brauchten einen sicheren Unterschlupf, bis das alles hier vorbei war – und in Anbetracht der Tatsache, dass Celine und die anderen Willow um ein Haar erkannt hätten, kamen die Jugendherbergen und Hotels der Stadt, in denen sich die Gläubigen drängten, für sie ganz sicher nicht infrage.
Nur in Richtung Norden schien der
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