Hüter der Flamme 04 - Der Erbe der Macht
werden sollte.
Er erwachte am nächsten Morgen so verfroren, steif und schmerzgepeinigt, wie er es nicht für möglich gehalten hätte.
Seufzend streifte er die Kleider ab und hängte sie über einen Zweig, bevor er unter die dritte Decke kroch. Manchmal kam es ihm vor, als hätte jemand anders sein früheres Leben gelebt. Ich frage mich, was Steve wohl macht? dachte er und mochte nicht einmal sich selbst eingestehen, wie sehr er sich der Tatsache bewußt war, daß er seit Jahren nicht mehr an seinen Bruder gedacht hatte. Sie beiden waren ein Paradebeispiel für gegensätzliche Charaktere gewesen; Steven introvertiert und verschlossen, Walter extrovertiert und ...
Bei einem Rascheln der Zweige schreckte er hoch und griff nach seiner in ein Öltuch eingeschlagenen Pistole.
»Walter?« flüsterte Aeias Stimme aus der Dunkelheit. »Bist du hier irgendwo?«
Im Hinterkopf hatte er sich die ganze Zeit schon gefragt, wann es geschehen würde, nicht ob.
»Hier drüben«, flüsterte er zurück und winkte, als der Lichtstrahl ihrer Laterne ihn traf. Sie war mit einem dicken Baumwollhemd bekleidet, das ihr bis zu den Waden reichte. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, meinte sie, während sie sich auf seinen Decken niederließ, »aber mir war nach Reden zumute.«
»Nein, danach war dir nicht zumute.«
»Nun ...«, sie musterte ihn gelassen. »Doch, schon. Vorher. Oder willst du, daß ich gehe?«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, erklärte Walter und blies rasch die Lampe aus - er wollte keineswegs erwischt werden. »Was mich zu der Vermutung bringt, daß deine Adoptivmutter zuviel redet.«
Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber mir war nach Reden zumute. Mit eben diesen Worten war damals Andrea in seine Kabine gekommen, in jener Nacht, als Karl ihn beinahe getötet hätte.
»Mag sein.« Stoff raschelte, und dann lag sie warm in seinen Armen. »Andrea hat mir einmal gesagt, die Andere Seite hätte sieben Weltwunder hervorgebracht, und von einem davon sollte ich die Finger lassen.«
»Deinem Vater?«
»Karl.« Sie vergrub den Kopf an seiner Brust, ihr langes Haar floß über seine Haut wie ein belebender Segensspruch. »An die anderen kann ich mich nicht erinnern, bis auf dich.«
Ihr warmer Mund berührte seine Lippen für eine beglückende Ewigkeit, bis sie sich atemlos trennten.
Morgen früh hasse ich mich vielleicht für das, was ich jetzt tue, aber ... »Versteh mich nicht falsch, aber was ist mit Bren?«
»Ich wüßte nicht, was dich das angeht«, sagte sie scharf.
Unzweifelhaft Andys Tochter, entschied er. Und damit ein weiterer Punkt für die Verfechter der Vererbungstheorie bei der Charakterformung.
»Ich werde Bren heiraten. Irgendwann werde ich sogar mit ihm schlafen«, verkündete sie entschlossen, »sobald er ordentlich weichgekocht ist. Und mach dir keine Sorgen, ich komme schon mit ihm zurecht. Falls er es herausfinden sollte. Was nicht geschehen wird.«
Mir scheint, das habe ich früher schon einmal gehört.
Sie schob ihn ein Stück von sich weg. »Oder willst du mich nicht?«
Andererseits läßt ein Gentleman eine Dame nicht warten. »Sei nicht albern.« Er drückte sie an sich. »Sei nicht albern.«
Kapitel sieben
Ein Ritt im Dunkeln
Ein Herrscher sollte nicht die ganze Nacht schlafen,
denn er ist ein Mann, in dessen Händen das Wohl des Volkes ruht und der zahlreiche Pflichten zu erfüllen hat.
Homer
Die Stille lastete auf Karl Cullinanes Schultern, als er auf den Balkon hinaustrat und in die Nacht schaute.
Die Dunkelheit glich einem feuchten Tuch, der Himmel war bedeckt, ein Westwind versprach Kälte und Regen. Keine tanzenden Feenlichter belebten die Finsternis; die einzigen fadenscheinigen Stellen in dem Vorhang aus Schwärze stammten von den Lichtern der Burg und vereinzelten erleuchteten Fenstern in der Stadt Biemestren.
Warum konnte er nicht schlafen? Die Nacht war bereits zur Hälfte verstrichen, und er hatte immer nur für ein paar Momente Ruhe gefunden.
Lauerte eine Gefahr dort draußen? Hatte er plötzlich einen sechsten Sinn für Bedrohungen entwickelt?
Nein.
Sei nicht albern, Karl.
Da draußen sah er nichts außer Dunkelheit. Nichts von Bedeutung.
Es hatte Zeiten gegeben, da wäre ein junger Karl Cullinane durch die Nacht gestreift, bis zum Bersten angefüllt mit Gedanken und Plänen, einer immer wichtiger als der andere. Was gab es nicht alles zu tun - Sklavenjäger bekämpfen, große Taten vollbringen, einfach jung sein.
Jung sein war angenehm gewesen. Aber
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