Hueter Der Macht
Kinder beim Spielen entdeckt. Dort lag ein Haufen Knochen… mein Bruder sagte, es müssen die Überreste Bruder Wynkyns gewesen sein. Um seinen Hals trug er ein Kreuz. Etwas weiter befindet sich ein Ort, ein merkwürdiger Ort, den der Mönch, meinem Bruder zufolge, zweimal im Jahr aufgesucht hat.«
»Und Euer Bruder… wo ist er jetzt?«
»Ich bin die Einzige, die von meiner Familie übrig geblieben ist«, sagte Odile.
»Euer Bruder und Eure Schwester sind gestorben?«
»Nein. Sie sind nach Nürnberg gegangen, um dort ein Handwerk zu erlernen.«
Odile blieb stehen und sah Thomas an. »Ich habe keinen von beiden jemals wiedergesehen. Ich weiß nicht, ob sie noch am Leben sind.«
Sie war offensichtlich betrübt, und ohne nachzudenken, zog Thomas sie an sich und klopfte ihr unbeholfen auf den Rücken.
Ihr gewölbter Bauch drückte gegen seinen, und er glaubte, die Bewegung ihres Kindes spüren zu können.
Er blinzelte überrascht, denn es war ein sehr angenehmes Gefühl.
Odile lächelte verlegen und löste sich aus Thomas’ Armen. »Zweifellos haben sie inzwischen eigene Familien«, sagte sie, »so wie ich.«
Damit drehte Odile sich um und führte Thomas tiefer zwischen die Bäume.
Sie gingen in den immer dichter werdenden Wald hinein, und Thomas lief schließlich voraus und bog tief hängende Äste und Gestrüpp zur Seite, damit Odile leichter vorankam. Er war etwas beunruhigt, denn sie schien mit einem Mal unsicher, und hin und wieder legte sie die Hand auf den Bauch, als wollte sie sich selbst beruhigen. Thomas hatte vorgeschlagen, dass sie zurückgehen sollten, doch Odile hatte erstaunt den Kopf geschüttelt und abgelehnt.
Sie würde sich wieder wohler fühlen, wenn sie erst einmal den Pfad erreicht hatten, der zur Schlucht führte.
Eine Schlucht? Wollte sie ihn zu einer Schlucht führen?
Er stellte Odile noch einige Fragen, aber sie lächelte nur und sagte: »Es ist ein merkwürdiger Ort, an den ich Euch führe, aber er ist ruhig und sehr friedlich.«
Thomas nickte und wollte gerade weitergehen, als Odile noch etwas hinzufügte.
»Meine Eltern, so wie viele alte Leute im Dorf, sagen, dass in der Schlucht Dämonen hausen, aber ich glaube nicht daran. Weder ich noch mein Bruder oder meine Schwester sind je behelligt worden.«
»Und Ihr wisst nicht, warum Bruder Wynkyn zweimal im Jahr zu dieser Schlucht gegangen ist?«
Sie legte den Kopf schief, fast kokett. »Warum? Nun, Bruder Thomas, vielleicht ist er in die Schlucht zum Nachdenken gegangen, oder gar, um mit Gott Zwiesprache zu halten, denn dafür ist es zweifellos der rechte Ort.«
Odile drängte sich an Thomas vorbei, ihr schwangerer Bauch streifte im Vorbeigehen seinen Arm. »Von nun an werde ich vorausgehen«, sagte sie. »Der Pfad wird gleich etwas breiter.«
So setzten sie ihren Weg etwa eine halbe Stunde lang fort, bis sie aus dem Wald heraustraten und vor einem Taleingang standen.
Odile rief ihm über die Schulter zu: »Wir sind fast da!«
Thomas hob seinen Blick. Das Tal war schmal – steile Felswände ragten zu beiden Seiten eines Talbodens auf, der höchstens zehn oder fünfzehn Schritte breit war. Odile hatte recht, es handelte sich eher um eine Schlucht.
»Wohin führt diese Schlucht?«, fragte er.
Odile zuckte mit den Schultern, und Thomas konnte nicht umhin, zu bemerken, wie das Kleid bei dieser Bewegung über ihrem Hinterteil auf und ab rutschte. Thomas fluchte innerlich; Odile war keine Frau, die man mit lüsternen Gedanken besudeln durfte.
»Nirgendwohin«, sagte sie und wandte den Kopf ein wenig, damit er sie besser hören konnte. »Sie endet an einer Felswand.«
Links von Thomas war ein leises Rascheln zu hören, als sei jemand auf Laub ausgerutscht, und er sah sich danach um.
Außer einigen Bäumen und dem von den Schatten der Nachmittagssonne gesprenkelten Erdboden war nichts zu sehen.
Er blickte wieder nach vorn.
Odile hatte sich ihm zugedreht, ein merkwürdiges Licht leuchtete in ihren Augen.
»Dort lag er«, sagte sie und wies auf eine Stelle neben dem Pfad.
Thomas ging in die Hocke, doch es war nichts zu sehen. »Wo befinden sich seine Knochen jetzt?«
Sie antwortete nicht, und nach einer Weile drehte sich Thomas zu ihr um.
Odile lächelte verschmitzt, wie über einen Witz, den nur sie kannte. »Mein Bruder, meine Schwester und ich haben die Knochen begraben«, sagte sie. »Wir dachten, es sähe ordentlicher aus.«
»Ihr dachtet, es sähe ordentlicher aus?«
»Sie lagen überall herum, als hätten
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