Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
des Korridors flüchten.
„Mach dir keine Umstände. Ich finde alleine hinaus“, sagte der Besucher, ging durch den Korridor und verließ das Haus.
Erst nach einer Weile traute Emily sich aus ihrem Versteck. Sie spähte in das kleine Zimmer. Ihre Großtante saß noch immer in ihrem Sessel und murmelte mit geschlossenen Augen vor sich hin.
Leise wich Emily zurück. Sie ahnte, dass sie Sophia jetzt am besten in Ruhe ließ.
Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, während sie einen Stock höher stieg. Wer war der nächtliche Besucher gewesen? Und was hatte er über die Gilde erzählt? Unbehaglich dachte Emily an die Angst in der Stimme ihrer Großtante. Finn hatte also Recht gehabt – die rätselhaften Ereignisse hatten etwas mit der Gilde der Geister zu tun.
Als sie die Wendeltreppe zu ihrem Zimmer hinauf gehen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Erschrocken fuhr sie herum.
„Wer ist da?“, flüsterte sie.
Statt einer Antwort hüpfte ein Buch hinter einem Regal hervor und blieb einige Meter vor Emily stehen. Es war dasselbe Buch, das ihr und Finn damals aus der Stadt gefolgt war. Emily machte einen vorsichtigen Schritt darauf zu. Das Buch schien sie genau zu beobachten, und als sie einen weiteren Schritt vorwärts ging, hüpfte es misstrauisch zurück hinter das Regal. Es verhielt sich wie ein scheues Tier.
„Irgendwann werde ich dich schon einfangen“, murmelte Emily. Dann ging sie die Wendeltreppe hoch.
Amethyst saß auf ihrem Kopfkissen und blinzelte ihr entgegen. Emily setzte sich zu ihr und streichelte ihr über den Kopf. Amy schnurrte. Obwohl sie nachts draußen umherstreunte, blieb sie jeden Abend neben Emily auf dem Kopfkissen liegen, bis sie eingeschlafen war. Emily war froh darum. So war der Gedanke an ihre Eltern etwas weniger schlimm.
„Die erste Zeit hier haben wir gut überstanden, oder, Amy?“, flüsterte sie der Katze ins Ohr. Von der Gilde der Geister und dem armen entführten Linus erzählte sie ihr lieber nichts. Wer wusste schon, ob Katzen nicht Alpträume bekommen konnten von solch unheimlichen Geschichten.
Irrlichter und Geister
Emilys eigeneTräume in dieser Nacht waren voller Gestalten, deren Gesichter im Dunkeln blieben, die unentwegt flüsterten und wisperten… und immer wieder sprach jemand den Namen aus, der Emily sogar im Schlaf einen kalten Schauer über den Rücken jagte… die Gilde der Geister …
Schließlich erwachte sie von Amethysts Fauchen. Als sie sich erschrocken im Bett aufsetzte, sah sie die Katze mit gesträubtem Fell vor der Wendeltreppe kauern, die zu ihrem Dachzimmer hochführte. Auf der zweitobersten Stufe stand das hüpfende Buch. Emily seufzte. Durch die runden Fenster drang fahles Morgenlicht, doch sie fühlte sich, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Entschlossen stand sie auf. Heute würde sie Finn so lange ausquetschen, bis er ihr endlich erzählte, was er über diese Gilde der Geister wusste.
Wieder fauchte Amethyst. Dann machte sie einen riesigen Satz und sprang direkt auf das Buch. Obwohl es sich vehement schüttelte, konnte es sich nicht befreien. Amy war eine zu gute Jägerin.
„Oh“, machte Emily. „Danke, Amy.“ Ihr war klar, dass sie selbst es nie geschafft hätte, das Buch zu fangen.
Sie packte es und hob es hoch. Amy schaute ihr wachsam dabei zu.
„Ach so, deshalb kannst du dich bewegen“, murmelte Emily.
Das Buch wurde von einer winzigen mechanischen Grille auf dem Rücken getragen. Sie musste sehr stark sein, dachte Emily bewundernd.
Die Grille schien Emily ebenfalls zu beobachten.
Der Deckel des Buches war wunderschön. Unzählige Fabeltiere waren darauf zu sehen, alle um einen Drachen mit glitzernden Schuppen gruppiert. Emily schlug das Buch auf und blätterte durch die Seiten. Auch da gab es farbenfrohe Bilder und Gedichte über Tiere, von denen sie noch nie gehört hatte. Ob das Buch wohl auch aus der Bibliothek war? Wahrscheinlich schon, denn es hatte zwei Sterne auf dem Rücken…
Die Grille kletterte am Buch entlang nach oben. Mit ihren winzigen metallenen Beinchen blätterte sie die Seiten um… weiter zurück… bis wieder die vorderste Seite aufgeschlagen war.
Emily starrte darauf. Und dann – für einen winzigen Moment – erschien zwischen den Zeilen eine andere Schrift. Eine verschnörkelte, altmodische Schrift…
Im nächsten Moment verblasste sie und verschwand wieder. Emily blinzelte. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Sie hob das Buch dicht vor ihre Augen, doch zwischen
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