Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
den Zeilen war nichts zu sehen.
Emily seufzte. Mittlerweile sah sie wohl überall Gespenster.
Sie klappte das Buch zu und beschloss, sich später damit zu beschäftigen. Allerdings fürchtete sie, dass es dann nicht mehr in ihrem Zimmer sein würde, weil die Grille es wieder wegtragen könnte. Nachdenklich musterte sie die Schlaufe am Buchrücken und suchte rasch nach einem Stück Schnur. Ein Ende band sie um ein Tischbein, das andere knüpfte sie um die Schlaufe.
Die Grille schien nicht viel dagegen zu haben. Sie sprang zu dem Buch und hob es sich auf den Rücken. Dann blieb sie still sitzen.
„Könntest du die Grille bitte nicht fressen, Amy?“, bat Emily. „Du würdest sowieso nur Bauchschmerzen bekommen davon.“
Die Katze drehte verächtlich den Kopf weg.
Emily ging an diesem Tag direkt ins Skriptorium, denn Signor Montague hatte Miki und ihr gesagt, dass er sie erst am folgenden Tag wieder brauchte.
„Bist du schon lange hier?“, fragte Emily, als sie dort ankam. Miki schaute kaum von seinen Büchern auf.
„Mhm“, murmelte er. „War auch bei Signor Montague… ist ziemlich glücklich… Silberbuchen verlieren endlich ihre letzten Blätter... sollen ihm morgen beim Aufsammeln helfen.“
Wenn er ein Buch vor sich hatte, redete er nur in Stichworten. So brachte er die Unterhaltung schneller hinter sich und konnte sich wieder dem wirklich Wichtigen zuwenden. Nämlich dem Lesen.
„Ähm… Miki… da ist eine Spinne direkt über dir“, sagte Emily vorsichtig. Miki hörte sie nicht einmal. Er blätterte eine Seite in seinem Buch um.
„Sie ist wirklich riesig… und sie sieht irgendwie hungrig aus…“
Miki blätterte eine Seite um.
„Sie ist jetzt in deinen Haaren…“
Er zog die Gaslampe näher zum Buch. Die Spinne krabbelte noch eine Weile auf seinem Kopf herum, dann ließ sie sich an einem Faden auf den Tisch hinunter. Gekränkt durch so viel Missachtung huschte sie davon. Emily kicherte.
Madame Foucault hatte Miki und ihr am Tag zuvor aufgetragen, eine neue Schrift zu üben. Emily wollte gerade ihr Tintenfässchen aufschrauben und damit beginnen, als glücklicherweise Emma und Finn auftauchten und sie von der Arbeit abhielten.
„Gemütlich“, meinte Finn, als er sich umgeschaut hatte. „Aber ein bisschen eng.“
„Man gewöhnt sich dran“, meinte Emily schulterzuckend. „Was macht ihr hier?“
„Julie hat uns aus der Werkstatt gescheucht“, erklärte Emma. „Wahrscheinlich schließt sie wieder einen verbotenen Handel mit diesem Kerl aus der Ringstadt ab. Wir sollen jedenfalls erst morgen wiederkommen.“
Emily nickte und schob Papier und Feder zur Seite. Sie warf einen Blick zu Miki, doch der sah nicht so aus, als würde er seine Arbeit unterbrechen wollen. Na ja, dachte Emily, dann würde sie ihm eben später alles erzählen.
„Hört mal“, begann sie und senkte die Stimme. „Meine Großtante hat gestern Abend Besuch bekommen.“
Erwartungsvoll sahen Emma und Finn sie an, und Emily erzählte ihren Freunden alles, was sie mit angehört hatte.
„Seht ihr? Ich hab’s doch gewusst!“, rief Finn.
„Sagst du uns jetzt vielleicht endlich, was du über die Gilde weißt?“, fragte Emily ungeduldig.
„Ja“, nickte Emma. „Zum Beispiel, ob ihre Mitglieder wirklich echte Geister sind.“
Finn biss die Zähne zusammen. Dann antwortete er:
„Wahrscheinlich nicht. Eher normale Menschen, vielleicht sogar Hüter. Man nennt sie nur so, weil sie immer im Verborgenen bleiben und niemand sie kennt. Die Gilde existiert schon seit Jahrhunderten. Trotzdem weiß man eigentlich gar nichts über sie.“
„Aber was tut diese Gilde?“, fragte Emily. „Ich meine… was wollen die Geister erreichen?“
Finn zuckte die Schultern. „Das weiß man auch nicht. Ich glaube, sie wollen die Bücher aus Arcanastra stehlen, um sie für sich allein zu haben. Oder gleich die Stadt erobern. Ist doch logisch… die Bücher sind so mächtig, da kann man leicht auf die Idee kommen, sie zu klauen. Um die Macht ganz für sich allein zu haben.“
„Aber warum hat die Gilde dann damals ein Mädchen aus Arcanastra entführt? Und jetzt Linus?“, wollte Emily wissen.
„Keine Ahnung“, sagte Finn. „Sicher ist nur, dass es beide Male genau gleich abgelaufen ist: Einer der Geister kam ins Moor, brachte die Irrlichter unter seine Kontrolle, und die entführten für ihn einen jungen Hüter.“
„Und was ist dann passiert?“, fragte Emily. „Ich meine vor dreißig Jahren, mit dem
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