Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
den Knopf drückte, verblasste das Leuchten der Kiesel langsam. Glücklich schob sie die Mechanik in ihre Tasche.
Bald darauf schlug die Bahnhofsuhr Mitternacht. Dann war ein leises Rumpeln zu hören, das stetig näher kam, und endlich tauchte aus der Dunkelheit die Bahn auf. Die blinden Pferde zogen sie im Kreis herum und blieben vor den Kindern stehen.
„Also dann“, sagte Finn.
Nacheinander streckten die Kinder den Pferden ihre Fahrkarte hin – Finn und Miki einige kleine Äpfel, Emily und Emma Zuckerstücke – dann stiegen sie ein. Wie Finn vorgeschlagen hatten, ließen sie die Tür offen.
Die Pferde zermalmten Äpfel und Zucker zwischen ihren kräftigen Zähnen, danach zogen sie an. Bald hatten sie Arcanastra hinter sich gelassen und tauchten in die Dunkelheit des nächtlichen Moors ein.
Emily wurde es unheimlich zumute. Die Laternen der Bahn schwankten hin und her und ließen die Schatten der Kinder über die Wände tanzen, und die offene Tür gähnte ihr als finsteres Loch entgegen.
„Wer von euch folgt mir mit dem Seil?“, fragte Finn. Emily, Emma und Miki schauten sich an.
Emily war klar, dass sich außer ihr niemand melden würde.
„Ich“, sagte sie deshalb. Das Herz schlug ihr bis zum Hals dabei.
Finn nickte zufrieden. Er knüpfte sich das eine Ende des Seils ums Handgelenk und gab Emily das andere. Dann stellte er sich direkt in die offene Tür.
„Sobald mich ein Irrlicht sieht, wird es mich weglocken“, sagte er voller Überzeugung.
Und natürlich war er der Einzige, der sich das wünschte.
Die Bahn fuhr und fuhr, doch nichts geschah. Es war, als hätten sich in dieser Nacht alle unheimlichen Wesen aus dem Moor zurückgezogen.
„Wo stecken die nur?“, murmelte Finn immer wieder. Emily schöpfte langsam Hoffnung. Es sah ganz danach aus, als würde Finns Plan nicht funktionieren.
Doch leider änderte Finn ihn kurzfristig ab.
„Dann gehe ich eben ins Moor hinein. Sie müssen irgendwo da draußen sein“, sagte er. Und bevor ihn seine Freunde davon abhalten konnten, war er aus der Bahn gesprungen. Fassungslos starrten sie hinterher.
Emily hatte nicht lange Zeit zum Überlegen. Das Seil glitt langsam aus dem Wagen und sie würde es bald loslassen müssen, wenn sie Finn nicht folgte…
Und dann packte sie eine Laterne und sprang aus der Straßenbahn in die Dunkelheit des nächtlichen Moors. Rumpelnd und knirschend verschwand die Bahn zwischen den Bäumen.
Es war noch viel gespenstischer im Moor, als Emily befürchtet hatte. Nebel waberte über schwarzen Wasserlachen, der Schein der Laterne warf zitternde Schatten, und überall raschelte, knackte und knarzte es. Kalter Wind fuhr zwischen Baumstämmen und Sträuchern hindurch. Mehr als einmal machte Emily vor Schreck einen Satz, weil irgendetwas sich im Dunkeln bewegt hatte.
„Nur ein Tier“, sagte sie, um sich selbst zu beruhigen.
Das Seil straffte sich. Finn war von den Schienen weg ins Moor abgebogen, und Emily folgte ihm. Sie konnte ihn nicht sehen, doch zu rufen traute sie sich nicht.
Auf einmal blieb sie stehen, starrte ins Moor und lauschte. Aus der Ferne drang noch ein anderes Geräusch durch die Nacht. Und war da nicht ein schwacher Lichtschein? Emily hielt den Atem an und packte ihre Laterne fester. Wenn das ein Irrlicht war…
Aber dann begriff sie. Die Schienen mussten hier einen großen Bogen schlagen, und was sie durch die Bäume gesehen hatte, waren die Lichter der Bahn.
Das Seil spannte sich, und Emily ging weiter. Nach einer Weile blieb sie erneut stehen und hob die Laterne hoch. Da vorne war etwas, ganz in der Nähe der Schienen, zu denen sie jetzt wieder gelangt war. Auch das Seil lief in diese Richtung. Vorsichtig ging sie näher, bis sie erkennen konnte, was es war. Überrascht betrachtete sie die Ruine eines kleinen Hauses. Die steinernen Wände waren von Pflanzen überwuchert, die Tür fehlte, und die Fenster waren schwarze Löcher. Ein Baum war sogar mitten durchs Dach gewachsen.
Emily kam an immer mehr Ruinen vorbei. Hier musste einmal eine ganze Stadt gestanden haben, mitten im Moor. Neugierig drehte sie ihre Laterne in alle Richtungen und betrachtete die steinernen Überreste. Manche Gebäude waren sehr schön gewesen, und in einigen Bogenfenstern befand sich sogar noch buntes Glas.
Zuerst glaubte Emily, sie hätte sich getäuscht. Aus den Augenwinkeln sah sie ein schwaches Flackern, aber als sie hastig den Kopf drehte und in die verlassene Stadt spähte, war da nichts. Sie folgte dem Seil und
Weitere Kostenlose Bücher