Huff, Tanya
Lehne ihres Stuhls und unterdrückte ein Gähnen.
„Ich weiß nicht, ob mir das einleuchtet", mur melte sie. Das frühe Aufstehen und späte Zubettgehen fingen an, sich bei ihr bemerkbar zu machen. Zwar hatte sie
am Nachmittag vier Stunden geschlafen, damit aber nicht mehr bewirkt,
als ihre innere Uhr vollends durcheinander
zu bringen. Erst vor einem Jahr hatte sie sich aus dem 24-stündigen
Polizeialltag verabschiedet und war erstaunt
darüber gewesen, wie schnell ihr die Anpassungsfähigkeit abhanden gekommen war. Dadurch, daß sie am Abend
Gewichte gestemmt hatte, war ihr
Kreislauf angeregt und die Müdigkeit zum Teil vertrieben worden, und
durch Henrys Anblick geriet ihr Blut nun noch stärker in Wallung.
Henry merkte deutlich, wie Vickis Geruch plötzlich intensiver wurde und seine Nase begann zu zucken. Er hob eine Augenbraue und murmelte
sanft: „Ich kann dir sagen, woran du denkst!"
Vicki spürte, wie sie errötete; es gelang ihr aber, ihre Stimme rela tiv ruhig klingen zu lassen, auch wenn sie nicht verhindern konnte, daß
sie ein wenig aufgeregt im Sessel hin- und herrutschte und die Beine übereinanderschlug. „Fang nichts an, was du nicht auch been den kannst,
Henry! Du hast gegessen!"
Der Hunger
war bereits zuvor gestillt worden, eine Notwendig keit, wenn Henry den ganzen Abend in der Gesellschaft Sterblicher verbringen wollte, ohne ausschließlich an das
Leben zu denken, das unter den Kleidern und der Haut um ihn herum floß.
Vickis Inter esse jedoch weckte auch bei
Henry den einen oder anderen Sinn erneut.
„Ich habe gar nichts angefangen", stellte er indessen klar und bemühte
sich nicht, sein Lächeln zu verbergen. „Ich bin hier nicht derjenige, der sich windet..."
„Henry!"
„... in seinem Stuhl, meine ich", beendete er ruhig den Satz. In
diesem Moment klingelte das Telefon. „Entschuldige mich einen Moment. Fitzroy,
guten Abend - hallo Caroline. Ja, stimmt, es ist eine ganze
Weile her. Ich habe zumeist an meinem neuen Buch gearbeitet."
Caroline - der Name war Vicki bekannt. Henry war ebensowenig ihr exklusiver Privatbesitz wie sie seiner war, trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß sie sich ... nun, sehr zufrieden fühlte. Nicht nur teilte sie Henrys Bett, was die andere Frau nicht mehr tat, sie teilte zudem auch das Geheimnis von Henrys wahrer Natur, und das war der anderen nie vergönnt gewesen.
„Heute habe ich leider schon etwas vor, aber vielen Dank für die Einladung.
Ja. Vielleicht. Nein, ich rufe dich an."
Er legte den
Hörer auf, und Vicki schüttelte den Kopf. „Du weißt natürlich, daß die Hölle spezielle Räume bereithält für Leute, die
versprechen, einen anzurufen und das dann nicht tun."
„Die sind bestimmt längst überfüllt, bis ich komme ..." Henry ließ den
Satz unvollendet. Vielleicht aber auch nicht. Solange er von der Sonne träumte, mochte jedes Morgengrauen sein letztes
sein. Zum ersten Mal blickte er über die Möglichkeit seines eigenen
endgülti gen Todes hinaus auf all die Dinge,
die danach unerledigt bleiben würden.
Er stand noch eine Weile schweigend da, die Hand auf dem Hörer, und traf dann seine Entscheidung.
Vicki blickte ihn aufmerksam an, als er zu ihr herüberkam, sich mit gebauschtem Opernumhang neben ihr niederkniete und ihre Hände ergriff. Sie
hatte zwar nichts gegen einen attraktiven Mann zu ihren Füßen, konnte sich aber des unsicheren Gefühls nicht erwehren, daß in diesem Fall die ganze Situation leicht
ungemütlich werden könnte.
„Du hast
recht, ich werde Caroline nicht anrufen", begann Henry. „Aber ich finde, du solltest wissen, warum nicht. Ich
habe keine Probleme damit, mich bei
einer zufälligen Begegnung von einem Fremden zu nähren, aber wenn ich mich von
Caroline nähre, dann habe ich das
Gefühl, ich verrate euch beide. Sie, weil ich ihr so wenig von dem gebe,
was ich bin, und dich, weil ich mich dir ganz gegeben
habe."
Mit einem Mal war Vicki eher ängstlich als zufrieden. Sie versuch te, Henry ihre Hände zu entziehen. „Nein ..."
Henry gab sie frei, blieb aber, wo er war. „Warum nicht? Das Mor gengrauen morgen kann das sein, auf das ich gewartet habe."
„Das kommt auf keinen Fall in Frage!"
„Das kannst du doch nicht wissen." In diesem Moment war sein endgültiger
Tod unwichtiger als das, was er zu sagen hatte. „Was ändert sich, wenn ich es
sage?"
„Alles.
Nichts. Ich weiß nicht." Vicki holte einmal tief Luft und wünschte, die Lichter wären weniger hell, so daß
sie nicht in der Lage
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